Den Gämsen im Kanton Aargau geht es nicht schlecht. „Die Teilpopulationen in den verschiedenen Gebieten sind stabil“, sagt Erwin Osterwalder, Fachspezialist Koordination Jagd beim Kanton.
Am Villiger Geissberg allerdings sind die Zahlen erschreckend. 2019 wurden hier 64 Tiere gezählt, 2021 nur noch 27. Mit 43 stieg die Zahl vergangenes Jahr zwar etwas, lag aber immer noch deutlich unter derjenigen von 2019.
Von Überbevölkerung ist keine Rede mehr
Im 2012 war es hingegen noch zu viel des Guten. Es hieß, die große Population hinterlasse viele Verbissschäden und müsse dezimiert werden. Werner Kalt von der Jagdgesellschaft Wessenberg berichtete damals der AZ: „Im Frühling haben wir in unserem Wald mehr als 160 Gämsen gezählt.“
Wie Erwin Osterwalder anmerkt, stellen die gezählten Tiere zwar nicht den ganzen Bestand dar. Beunruhigend sind die stark gesunkenen Zahlen aber allemal, und es tritt die Frage auf: Was ist hier los?
Erste Vermutung bestätigte sich nicht
Antworten liefert eine Untersuchung, welche die kantonale Sektion Jagd und Fischerei in Auftrag gegeben hatte. In dieser, ausgeführt von SKK Landschaftsarchitekten, wurde vor allem die These überprüft, dass die zunehmende Ausbreitung des Luchses für den Rückgang verantwortlich sei.
Wie das Unternehmen auf seiner Website schreibt, organisierte und begleitete es eine Gamszählung der Jagdgesellschaften. Außerdem führte es im 2022 während zweier Monate in der Gegend rund um den Geissberg ein Fotofallenüberwachung durch.
Die 20 Kameras erwischten zwar keine Luchse, „jedoch wurde ein Erstnachweis einer Wildkatze gemacht“. Auf deren Speiseplan sind Gämsen allerdings nicht vertreten.
Immer mehr Leute in der Natur unterwegs
Daneben gab es auch unerfreuliche Entdeckungen. So tappten mindestens zwei Waschbären in die Fotofallen. Diese Neozoen – invasive Tierarten – können das heimische Ökosystem negativ beeinflussen.
Bedauerlich findet SKK Landschaftsarchitekten zudem die Nachweise von hohem Freizeitdruck, vor allem von Bikerinnen und Bikern sowie Fahrzeugen. „Dieser ist sicher mitverantwortlich für die starke Populationsabnahme der störungsempfindlichen Gämsen.“
Gämsen verändern ihr Verhalten
Diese hätten ihr Verhalten geändert, erklärt Erwin Osterwalder. „Sie sind hauptsächlich in Kleingruppen oder einzeln unterwegs und vornehmlich im Wald. Große Rudel auf Wiesen sieht man keine mehr.“ Als mögliche Ursachen nennt er ebenfalls den hohen Freizeitdruck, aber auch die Art der Bejagung.
Als Gründe für Ersteres sieht Osterwalder das Bevölkerungswachstum, die gewonnene Freizeit vieler Leute während der Coronapandemie sowie immer neue Trendsportarten wie zum Beispiel E-Mountainbike.
Da es durch die Verhaltensänderung der Tiere bei den Zählungen wahrscheinlich eine viel grössere Dunkelziffer als früher gebe, sei die Lage am Geissberg allerdings weniger dramatisch als befürchtet.
Auswirkungen von Bautätigkeiten noch unklar
Krankheiten und Luchse konnten dank der Untersuchung ausgeschlossen werden. Unklar ist gemäß Osterwalder noch, ob Bautätigkeiten oder Arbeiten beim Steinbruch Gabenchopf Auswirkungen haben.
Aufgrund des Rückgangs wurde die Gamsjagd in der Gegend rund um den Geissberg drastisch reduziert, im Jahr 2021 sogar ganz ausgesetzt. „Mittelfristig suchen wir Lösungen zur Lenkung des immensen Drucks durch Freizeitbeschäftigungen im Gebiet“, so Erwin Osterwalder.
Um die Tiere nicht unnötig zu belasten, rät er Spaziergängerinnen und Sportlern, auf den Wegen zu bleiben – insbesondere nachts – und bei Begegnungen Distanz zu wahren.
Die Autorin ist Redakteurin der „Aargauer Zeitung“. Dort ist dieser Beitrag zuerst erschienen.