„Von Anfang an habe ich mir gedacht, bei dieser Frau stimmt etwas nicht.“ So beginnt ein erfahrener Kinderarzt aus der Schweiz, der auch viele Jahre in Baden-Württemberg tätig war, seine Schilderungen über eine mutmaßliche Betrügerin. Seinen Namen möchte er hier zum Schutz seiner Praxis nicht lesen.
Vor etwa einem Jahr sei eine ihm bis dahin unbekannte Frau mit einem gemeinsamen Bekannten bei ihm aufgetaucht. Dieser habe gewusst, dass er eine Kinderärztin als Verstärkung für seine gut gehende Praxis suche.
Widersprüche und Ungereimtheiten
Die 43-jährige Daria Z. (Name geändert) habe ihm erzählt, an einer Universität in Süditalien Medizin studiert und anschließend als Ärztin in Neapel gearbeitet zu haben. Die Weiterbildung zur Fachärztin für Kinderheilkunde habe die gebürtige Ukrainerin an einer renommierten Hochschule in Norditalien absolviert.

„Als ich sie gefragt habe, welche Sprachen sie spricht, hat sie Italienisch nicht genannt, obwohl sie so viele Jahre in Italien studiert und gearbeitet haben will“, sagt der Mediziner dem Recherchekollektiv aus SÜDKURIER und ‚Tages-Anzeiger‘ (Zürich). Das sei der erste Punkt gewesen, der ihn stutzig gemacht habe.
Zudem habe die ausgebildete Kinderärztin erzählt, sie sei am Klinikum Hochrhein in Waldshut-Tiengen als Narkoseärztin beschäftigt gewesen. Auf die Frage des langjährigen Mediziners, wie sie es schaffe, die beiden völlig unterschiedlichen Fachgebiete Kinderheilkunde und Anästhesie zu beherrschen, habe Daria Z. geantwortet: „Ich lese viel.“
„Das kann nicht stimmen“
Um ihr Fachwissen zu testen, fragte der Kinderarzt die 43-Jährige, wie viele Impfstoffe ein Kind mit einem Jahr bekommt. Darauf soll sie geantwortet haben: „Das habe ich schon vergessen.“
Zunächst soll die Frau verneint haben, eine Zulassung als Ärztin in der Schweiz zu besitzen. Beim zweiten Treffen zwei Monate später soll Daria Z. plötzlich gesagt haben, schon seit zwei Jahren über die nötigen Dokumente zu verfügen. „Da habe ich gewusst, das kann nicht stimmen“, sagt der Kinderarzt. Ein drittes Treffen, um das sich die 43-Jährige bemüht habe, lehnte er ab.
Alle gültigen Merkmale eines Originals
Weit weniger misstrauisch war das Klinikum Hochrhein in Waldshut-Tiengen. Dort hatte Daria Z., wie berichtet, eine „eindrucksvolle Bewerbung“ als Ärztin mit „allen gültigen Dokumenten“ vorgelegt, darunter auch eine auf den ersten Blick einwandfreie Approbationsurkunde des Regierungspräsidiums Stuttgart.
Die Urkunde – die dem SÜDKURIER vorliegt – bescheinigte der gebürtigen Ukrainerin ihre angebliche Zulassung als Medizinerin in Baden-Württemberg und wies „alle gültigen Merkmale eines Originales auf“, wie eine Sprecherin des Klinikums sagt.

Es folgten ein Vorstellungsgespräch und eine Hospitation, eine Art Praktikum. „Die junge Frau konnte ihren Erfahrungsschatz sowie ihre beruflichen Vorstationen glaubhaft darlegen und verfügte auch über medizinisches Wissen“, sagt eine Kliniksprecherin.
„Nicht in der Lage, EKG anzulegen“
Mit 1. Februar 2022 stellte das Klinikum Hochrhein Daria Z. als Assistenzärztin in Vollzeit ein, um in der Abteilung Anästhesiologie, Intensivmedizin und Notfallmedizin zu arbeiten, wie aus internen Dokumenten hervorgeht. Dort wurde sie als Narkoseärztin in die Abläufe im Operationssaal eingearbeitet, wobei ihr Wissensstand wöchentlich geprüft wurde.
„Der Wissensrückstand der Assistenzärztin war nicht nur auf die Sprachbarriere zurückzuführen. Sie war nicht einmal in der Lage, ein EKG anzulegen“, sagt eine Kliniksprecherin. Das Elektrokardiogramm (EKG) überwacht den Herzschlag.
Vom Dienst freigestellt
Aus diesen Gründen wurde die vermeintliche Medizinerin nach zweieinhalb Monaten vom Dienst freigestellt. Zwei Wochen später – am 30. April 2022 – löste das Klinikum Hochrhein das Arbeitsverhältnis auf. Weil sich der Verdacht noch nicht beweisen ließ, erhielt Daria Z. ein Arbeitszeugnis, das dieser Redaktion vorliegt.
Darin ist auf den ersten Blick erkennbar, dass zu einem späteren Zeitpunkt unter anderem der Dienstantritt in einer anderen Schriftart um ein Jahr vordatiert wurde, wohl um eine längere Beschäftigungszeit vorzutäuschen. Zudem wurde die Zahl der Narkosen, bei der die 43-Jährige als Medizinerin beteiligt gewesen sein soll, auf mehr als 660 hochgeschraubt. Dies ist laut einer Sprecherin stark übertrieben und gefälscht.

Nachforschungen des Klinikums Hochrhein in der Ukraine und in Italien ergaben schließlich, dass die Angaben der 43-Jährigen in ihren Bewerbungsunterlagen nicht stimmig sind. Die Klinik fragte auch beim Regierungspräsidium Stuttgart nach und erfuhr, dass die vorgelegte Approbationsurkunde gefälscht ist.
„Zwar handelt es sich um ein – von Text und Aufbau her – einer echten Urkunde sehr nahekommendes Exemplar, allerdings ist das Prägesiegel verschwommen und undeutlich“, teilt Stefanie Paprotka vom Regierungspräsidium Stuttgart dem SÜDKURIER auf Anfrage mit. Zudem stimme auch die Formatierung beim Teil mit dem Namen und dem Geburtsdatum nicht mit der Formatierung eines Originals überein.
„Nicht alleine am Patienten tätig“
Das Hauptmerkmal einer echten Urkunde ist jedoch die Tastbarkeit des Prägesiegels. „Daher geben wir Arbeitgebenden immer den Hinweis, sich mindestens einmal die Originalurkunde persönlich vorlegen zu lassen. Eine elektronische Kopie ist nie ein gültiges Dokument, sondern nur eine Kopie“, so Paprotka.
Im vorliegenden Fall sei gemäß dieser Empfehlung verfahren worden, heißt es dazu seitens des Klinikums Hochrhein: „Bei uns wird das Original immer eingefordert, und dieses hat ein Siegel gehabt.“ Dass es sich um eine Fälschung handelte, sei nicht ersichtlich gewesen, so die Klinikumssprecherin weiter. Im Oktober 2022 – ein halbes Jahr nach Dienstende der falschen Ärztin – erstattete das Klinikum Hochrhein Strafanzeige gegen Daria Z. Die Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen bestätigt, gegen die Frau wegen des Verdachts des Betrugs und der Urkundenfälschung zu ermitteln.

Die Anklagebehörde geht davon aus, dass bei der mutmaßlichen Täuschung keine Menschen zu Schaden gekommen sind. Die betroffene Klinik schließt dies ausdrücklich aus, da Daria Z. bei ihrer Tätigkeit als Narkoseärztin laut einer Sprecherin „nicht alleine am Patienten tätig war“. Jeder ihrer Arbeitsschritte sei kontrolliert worden.
Auch Schweizer Bundesurkunde gefälscht
Wie aus vorliegenden Ermittlungsdokumenten hervorgeht, verdiente die 43-Jährige in den drei Monaten als Assistenzärztin insgesamt 14.000 Euro brutto – „ohne hierfür adäquate fachgerechte Arbeitsleistungen zu erbringen“, wodurch der Klinik ein Schaden in entsprechender Höhe entstanden sei. Die Klinik sieht sich als „Opfer einer professionellen Fälschung“, will aber das Strafverfahren abwarten, bevor entschieden wird, ob Schadenersatz gelten gemacht werden könnte.
Aus ihrem Auffliegen dürfte die mutmaßliche Hochstaplerin kaum etwas gelernt haben. Wie geschildert, versuchte sie bereits kurz darauf ihr Glück in der Schweiz. Um dort als Ärztin arbeiten zu können, soll Daria Z. erneut staatliche Urkunden professionell gefälscht haben: Sie gaukeln vor, die 43-Jährige besitze ein vom Berner Bundesamt für Gesundheit (BAG) anerkanntes Diplom als Ärztin.

Im März 2023 erstattete das Bundesamt Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft Aargau bestätigt auf Anfrage eine laufende Strafuntersuchung wegen Verdachts auf Urkundenfälschung gegen die 43-jährige Ukrainerin. Sie befindet sich auf freiem Fuß. „Die Voraussetzungen für eine Untersuchungshaft sind in der vorliegenden Konstellation nicht gegeben“, teilt ein Sprecher mit.
„Wie konnte die Frau diese Dokumente so perfekt fälschen?“, fragt der Schweizer Kinderarzt. Er ist überzeugt, dass Daria Z. Helfer gehabt haben müsse. „Dafür braucht es viele Informationen, auch die Qualität des Papiers ist wichtig – das wissen nur die Behörden“, sagt der Mediziner.
Zwei bis drei falsche Ärzte pro Jahr
Das bei der Zulassung von Ärzten für ganz Baden-Württemberg zuständige Regierungspräsidium Stuttgart antwortet auf die Frage, ob jemand innerhalb der Behörde unbefugt Dokumente ausgestellt oder Informationen weitergegeben haben könnte, dass es dafür „keine Anhaltspunkte“ gebe.
„Das Prägesiegel ist bei uns sehr sicher verwahrt und nur sehr wenigen Personen zugänglich“, sagt Sprecherin Paprotka. Pro Jahr werden dem Regierungspräsidium Stuttgart zwei bis drei gefälschte Approbationsurkunden von vermeintlichen Ärzten bekannt.
Mit den gefälschten Diplomen soll sich die Frau nicht nur bei dem Kinderarzt als Medizinerin beworben haben, sondern auch in einem großen Spital sowie in einem Pflegeheim für Senioren in Zürich. „Es ist das erste Mal, dass so etwas bei uns passiert ist und sicher auch das letzte Mal“, sagt der Leiter des Pflegeheims.
„Hohe kriminelle Energie“
Da eine angestellte Medizinerin in dem Haus gar nicht vorgesehen ist, erhielt sie eine Stelle als Pflegehelferin, in der sie bis vor Kurzem arbeitete. Die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich als zuständige Aufsichtsbehörde habe das Pflegeheim über die Vorgeschichte von Daria Z. informiert. Eine Sprecherin der Behörde bestätigt, dass ein Verfahren in dem Fall anhängig ist.
Mitte September stellte der Heimleiter die 43-Jährige mit sofortiger Wirkung dienstfrei. Die Frau musste ihre Schlüssel abgeben und wurde zur Tür hinaus begleitet. Für ihn besitzt die Frau zwei Persönlichkeiten: „Einerseits die sympathische, alleinerziehende Mutter, für die die Mitarbeitenden sogar Geld gesammelt haben. Andererseits eine Person mit hoher krimineller Energie, die ihr Umfeld täuscht und ihm etwas vormacht“, sagt der Leiter des Pflegeheims und kündigt eine Strafanzeige an.
Anwältin versucht, Bericht zu verhindern
Ob es weitere Versuche von Daria Z. gab, als Ärztin in Deutschland oder in der Schweiz Fuß zu fassen, dazu halten sich die Behörden bedeckt. Auch Kantonspolizei und Staatsanwaltschaft Zürich ermittelten aufgrund eines Rechtshilfegesuchs der Staatsanwaltschaft Waldshut gegen die Frau. Laut vorliegenden Ermittlungsdokumenten führte die Polizei kurz vor Weihnachten 2022 eine Hausdurchsuchung in der damaligen Wohnung der 43-Jährigen in Zürich durch.
Diese Redaktion suchte mehrfach das Gespräch mit Daria Z. und erreichte sie am Telefon. Sie war jedoch zu keiner Stellungnahme bereit. Wenige Tage später versuchte ihre Anwältin in einem Schreiben, eine Berichterstattung zu verhindern und drohte andernfalls mit „rechtlichen Schritten“. Für Daria Z. gilt die Unschuldsvermutung.