Herr Schneider, wie unterscheiden sich die Freiheit in Deutschland und in der Schweiz voneinander?

In der Schweiz hat man schon mehr Freiheit vom Staat. Gleichzeitig trägt man selbst auch größere Risiken, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Die Menschen müssen sich im liberaleren System teilweise stärker selbst versichern. Es ist natürlich so, dass man über das direktdemokratische System deutlich stärker mitwirken kann – es wird viermal im Jahr gewählt. Das gibt auch dem einzelnen Bürger das Gefühl, dass er selbst bestimmen kann.

Dieses System ist weniger personenzentriert und in dem Sinne ist die Schweizer Exekutive, aber auch die Verwaltung, weniger mächtig als die Bundesregierung.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

In der Schweiz ist es zum Beispiel deutlich einfacher, eine Steuererklärung auszufüllen. In Deutschland nimmt das sehr viel Zeit in Anspruch. Es gibt ein viel größeres Misstrauen des Staates gegenüber dem einzelnen Bürger, ob er seine Freiheit nicht missbrauchen würde.

Wo kommt dieses Misstrauen her?

Teilweise aus der obrigkeitsstaatlichen Tradition Deutschlands. Und auch schlicht aus der Macht von Politik und Verwaltung. Die müssen nur alle vier Jahre wiedergewählt werden. Es gibt nicht das Korrektiv der direkten Demokratie.

Gerald Schneider ist Professor für Internationale Politik an der Universität Konstanz.
Gerald Schneider ist Professor für Internationale Politik an der Universität Konstanz. | Bild: Universität Konstanz

Forderungen nach mehr direktdemokratischen Elementen werden in Deutschland immer häufiger laut. Lässt sich das einfach übertragen oder muss so etwas auch kulturell eingeübt werden?

Die Bürger der Schweiz sind natürlich schon so sozialisiert worden. Sie saugen die direkte Demokratie quasi mit der Muttermilch auf und haben eine gewisse Skepsis gegenüber der Politik. Andererseits wird das durchaus auch ausgenutzt, die SVP pflegt ihren Anti-Eliten-Diskurs seit den 1980er-Jahren. Der passt gut zu dieser grundsätzlichen Skepsis, die sich so politisch ausbeuten lässt.

Welche Risiken hat dieses freiheitlichere System?

In der Schweiz gibt es einen großen Hang zum Konformismus. Man hat dort zwar viele Freiheiten, nimmt die aber nicht zwangsläufig in Anspruch. Durch die Struktur mit den vielen Kantonen und mehreren Landessprachen gibt es einen großen Konsensbedarf, die Entscheidungen müssen von vielen mitgetragen werden. Das führt manchmal auch zu einem gewissen Konformismus. Die direkte Demokratie ist das Korrektiv dafür.

Haben Sie ein Beispiel dazu?

In der Schweiz muss man eher zwei Tunnel bauen als einen durch die Alpen, um alle Landesteile zu befriedigen. Das führt zu einem übergroßen Mehrheitsbedarf, bei vielen Entscheidungen müssen 80 Prozent dafür sein, damit die Sperrminorität der kleinen Kantone überwunden werden kann.

Welche Nachteile gibt es noch? In der Schweiz gibt es ja beispielsweise eine Kurierfreiheit, es darf also jede und jeder alle erdenklichen Heilmethoden praktizieren, ob die nun überprüfbar helfen oder nicht.

Das ist natürlich der Preis der Freiheit, dass Leute ohne die fachliche Ausbildung, also Wunderheiler und Quacksalber, Schaden anrichten. Andererseits: In Deutschland werden ausländische Diplome in vielen Berufen sehr restriktiv vergeben. Dieser Protektionismus vergrößert den Fachkräftemangel, den wir derzeit spüren.

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Kann so viel Freiheit also auch eine Bürde sein?

Ich will es nicht als Bürde empfinden. Aber mit den Herausforderungen, mit den größeren Risiken muss man natürlich mehr Selbstverantwortung übernehmen. In Deutschland wird Freiheit einfach sehr stark durch die Bürokratie eingeschränkt. Das konnte man bei Corona sehr deutlich sehen: Es gibt diese sehr bevormundende Verwaltung, die aber oft nicht optimal funktioniert.

Solche Tendenzen gibt es zwar auch in der Schweiz. Aber hier sind die Bürger anders sozialisiert und lassen sich nicht alles gefallen.

Gibt es auch Bereiche, in denen Deutschland freiheitlicher ist als die Schweiz?

Es gibt eine laufende Diskussion über das Bankgeheimnis. Journalisten in der Schweiz sind da durchaus eingeschränkt in der Berichterstattung – das gibt es in Deutschland nicht. Andererseits ist die Rechenschaftspflicht der Politik in der Schweiz sehr viel stärker ausgeprägt. Es gibt etwa Statistiken über das Entscheidungsverhalten einzelner Richter, ohne dass sich jemand daran stören würde.

In Deutschland können sich solche Entscheidungsträger hinter der Datenschutzmauer verstecken, sodass die scharfen und zahmen Hunde unter den Richtern nicht bekannt werden. Also: Grundsätzlich ist der Zugang zu Informationen in vielen Fällen in der Schweiz trotzdem deutlich besser und die Politik dadurch transparenter.

Wenn man sich beide Länder so nebeneinander anguckt, ist die plumpe Einschätzung verlockend, der Mittelweg zwischen beiden wäre am besten.

In vielen Dingen wäre das schon so. Deutschland ist in vielen Dingen überreguliert, die Schweiz unterreguliert. Es gibt aber natürlich noch andere Aspekte. In Deutschland werden Konflikte offener ausgetragen. In der Schweiz bekommt man das Messer eher von hinten in den Rücken. (lacht)