Wer sich in diesen Tagen in Davos auf die Spuren eines Antisemitismus-Skandals begibt, findet eine Gruppe kaum: die Betroffenen, orthodoxe Juden. Nur wenige begegnen einem auf den Straßen im weltbekannten Schweizer Kur- und Wintersportort. Einer aber kommt gerade vom Einkaufen. Er sagt auf Englisch: „Die ganze Welt hat von diesem Zettel gehört. Es macht mich wütend. Das ist klar antisemitisch.“
Eben jenen Zettel hatte ein Schlittenverleih ausgehängt. Auf Hebräisch verkündete dieser, dass an Juden kein Sportgerät mehr verliehen werde. Es folgt eine große Welle der Aufregung. Schon seit hundert Jahren reisen vor allem im Sommer orthodoxe Juden aus aller Welt nach Davos, immer wieder kam es zu Reibereien. Nun ermittelt sogar die Polizei. Was steckt dahinter?
„Wir vermieten nicht mehr an unsere jüdischen Brüder“
Am 11. Februar hatte der Zürcher Gemeinderat Jehuda Spielman von der FDP ein Foto des Aushangs gepostet, der lautet: „Aufgrund verschiedener sehr ärgerlicher Vorfälle, darunter der Diebstahl eines Schlittens, vermieten wir keine Sportgeräte mehr an unsere jüdischen Brüder. Dies betrifft alle Sportgeräte wie Schlitten, Airboards, Skis und Schneeschuhe. Vielen Dank für Ihr Verständnis.“
Angeblich reisen Gäste vorzeitig ab
Nach Angaben des Betreibers hätten jüdische Gäste Schlitten teilweise auf der Piste stehen gelassen, sie gar nicht oder defekt zurückgebracht.
Kurz nach dem der Aushang öffentlich wurde, lässt sich der Davoser Tourismusdirektor Reto Branschi damit zitieren, ‚ein Teil der jüdisch-orthodoxen Gäste‘ verweigere ‚jede Form von Anpassung‘. Neuere und ältere Ereignisse werden hervorgekramt. Noch im vergangenen Jahr berichtete Branschi von Gästen, die sich dermaßen über das Verhalten der Juden vor Ort aufgeregt hätten, dass sie vorzeitig abgereist seien.
Auf Nachfrage des SÜDKURIER benennt er keinen konkreten Fall und beruft sich auf die Vertraulichkeit solcher Korrespondenzen mit Gästen. Auch ansonsten bleiben die Vorwürfe vage, obwohl Branschi betont, dass es sich dabei um eine kleine Gruppe, nicht etwa um alle orthodoxen oder gar alle jüdischen Gäste handele: „Leider kommt es mit einem Teil der jüdisch-orthodoxen Gäste aber auch zu Gesetzesverstößen und es geht immer wieder um respektloses Verhalten gegenüber anderen Gästen, Einheimischen und Mitarbeitenden von lokalen Betrieben.“ Welche Verstöße oder welches Verhalten genau gemeint sind, bleibt unklar.
Der Vorwurf: Sie grüßen nicht
Die Vorwürfe klingen teilweise banal: Viele orthodoxe Gäste würden auf der Straße nicht grüßen, heißt es etwa. „Dieser Vorwurf ist absurd“, sagt dazu Jehuda Spielman, selbst Jude. „Erstens: Ein professionell geführter Touristenort geht nicht unter, wenn ein paar Gäste nicht grüßen. Zweitens glaube ich nicht, dass zum Beispiel ein nichtjüdischer amerikanischer Tourist alle grüßt.“
Bei anderen falle das nicht auf. Bei einem jüdisch-orthodoxen Touristen merke man es sofort, weil er als solcher zu erkennen ist – und Leute verallgemeinern und denken dann, Juden wären unfreundlich, so Spielman. „Das ist ein logischer Fehlschluss, der Vorurteile begünstigt.“
Er kritisiert das Davoser Tourismusmanagement direkt: „Der Beruf des Touristikers besteht doch darin, mit Personen aus der ganzen Welt und aus verschiedenen Kulturen ein Geschäft zu machen. Wenn man am Umgang mit verschiedenen Kulturen scheitert, ist man im falschen Beruf.“
Hinweisschilder nur auf Deutsch
Besuch beim besagten Bergrestaurant mit Schlittenverleih. Pischa liegt auf knapp 2500 Metern über Null, eine große, alte Gondel fährt vom Rand des Flüelapasses hinauf. Der Zettel ist zu diesem Zeitpunkt seit fünf Tagen bekannt, in der Zwischenzeit hängt er nicht mehr da. Stattdessen: ein auf Deutsch formulierter Hinweis, dass nur an Kundschaft mit wintertauglicher Kleidung vermietet werde.
Auch die ausliegenden Mietverträge, Sicherheits- und Müllhinweise sind ausschließlich auf Deutsch formuliert. In anderen Schweizer Wintersportorten mit internationalem Publikum wird das durchaus anders gehandhabt, in Andermatt beispielsweise gibt es Hinweise auch auf Englisch, Russisch, Arabisch.
Wer etwas ausleihen will, muss ein Ausweisdokument hinterlegen, laut Mietvertrag werden bei Verlust 300 Franken fällig. Das wirft die Frage auf, wie an Juden verliehene Schlitten abhandenkommen konnten – deren Ausweise müssten ja vorliegen. Oder wurde dieses Verfahren erst nachträglich eingeführt? Vor Ort will niemand Fragen beantworten, beide Telefonanschlüsse sind am Montag nicht erreichbar. Laut Reto Branschi ist das Pfandsystem nicht neu.
Israeli denkt zuerst, der Aushang sei Folge des Nahostkonflikts
Ein Paar aus Israel kommt in der Bergstation an, er mit Kippa und Schläfenlocken. Ob sie den Zettel kennen? Nein, sie haben nichts davon gewusst, sagen sie auf Englisch. „Das ist schrecklich, wir sind freundliche Menschen, wir lieben alle!“, sagt der Mann.
Sie dachten zuerst, es ginge um den 7. Oktober, den Überfall der Hamas auf Israel, in dessen Folge gerade auch in europäischen Gesellschaften offener Antisemitismus grassiert.
Für den Schweizer Israelitischen Gemeindebund (SIG) ist dieser Vorfall nichts Neues: „Wir sind leider im Umfeld von Davos regelmäßig mit Pauschalisierungen konfrontiert“, schreibt dessen Generalsekretär Jonathan Kreutner. Damit würden aber nur Emotionen bespielt. Die Realität sei eine andere und weitaus komplexer. „Solange das nicht gesehen und akzeptiert wird, wird es schwierig, die Situation zu entspannen.“
Krisengespräch schon im vergangenen September
Kreutner selbst war auch früher schon vor Ort, erst im vergangenen September traf er sich dort mit Tourismusdirektor Branschi zum Krisengespräch, nachdem der Tourismusverband einseitig ein gemeinsames Vermittlungsprojekt zwischen jüdischen Gästen und örtlicher Bevölkerung aufgekündigt hatte.
Zwar gab man sich im Anschluss versöhnlich, ausgeräumt sind die Differenzen aber nicht: „Leider hat sich nach drei Sommern gezeigt, dass ein Teil der jüdisch-orthodoxen Gäste die Vermittlerinnen und Vermittler schlicht ignoriert“, schreibt Branschi auf Anfrage. Es sei dieser kleine Teil der Gäste, „der uns großes Kopfzerbrechen bereitet“, lokale Sitten und Gebräuche würden nicht respektiert.
Von SIG-Generalsekretär Kreutner heißt es hingegen: „In der kurzen Kündigungs-E-Mail wurde im Wesentlichen moniert, dass das gemeinsame Ziel, mehr gegenseitiges Verständnis bei Einheimischen und jüdischen Gästen zu schaffen, nicht realistisch sei. Das löste beim SIG Konsternierung aus.“ Ihre Einschätzung sei eine fundamental andere. Man wisse aus Rückmeldungen, dass das Projekt wirke: „Viele Davoserinnen und Davoser wissen mit den kulturellen Unterschieden besser umzugehen, sie verstehen auch mehr davon.“
Neue Taskforce soll helfen
Nun soll eine neue Taskforce helfen, die Probleme in Davos zu befrieden. Immerhin ermittelt nach den Vorkommnissen bei Pischa – dem Zettel beim Schlittenverleih – die Graubündner Kantonspolizei wegen Diskriminierung und Aufruf zu Hass. Der Pächter des Bergrestaurants hat sich für den Aushang inzwischen entschuldigt, eine Mitarbeiterin sei mit der Situation überfordert gewesen und habe das Schreiben „ungeschickt formuliert“.
Die lange Vorgeschichte macht den Fall aber komplizierter, in der Schweiz geht es längst um mehr als den Aushang. „Es werden Lappalien aufgebauscht und pauschalisiert“, sagt der Zürcher Gemeinderat Jehuda Spielman über die Vorwürfe gegen Juden. Ihm fehlt das Verständnis: „Jedes Jahr findet das Weltwirtschaftsforum in Davos statt, das stellt den ganzen Ort auf den Kopf, man kommt kaum rein oder raus, es gibt massive Einschränkungen für die Bewohner. Da sollten doch zwei- oder dreitausend jüdisch-orthodoxe Gäste im Sommer keine solche Herausforderung darstellen.“
Neuer antisemitischer Vorfall?
Er selbst soll der neuen Taskforce angehören, wie er am Wochenende bestätigt. Für ihn ist aber klar: „Die orthodoxen Gäste kommen nicht erst seit gestern, sie kommen seit Jahrzehnten. Die jüdische Gemeinde in der Schweiz hat nichts davon – im Gegensatz zu Davos, das viel Geld mit ihnen verdient. Wir bleiben aber mit den Nachteilen, wir sind diejenigen, die nachher in den Medien durch den Dreck gezogen werden. Es wäre die Verantwortung von Davos, mit diesem Problem umzugehen, nicht die Verantwortung der jüdischen Gemeinde in der Schweiz.“
Noch am Sonntagabend wird ein weiterer Fall bekannt: Das Schweizer Nachrichtenportal ‚20 Minuten‘ berichtet von einem jüdischen Studenten, der mitten in Davos antisemitisch beschimpft worden sein soll – ein Passant habe Juden als Ratten verunglimpft und gesagt, sie seien nicht willkommen.