Herr Friedman, wie geht es Ihnen in diesen Tagen?
Wie geht es Ihnen in diesen Tagen?
Bedrückt und nachdenklich in einem Maße, dass es schwer zu ordnen ist. Es ist diffus.
Ich habe Sie bewusst zurückgefragt, das mache ich häufig in den vergangenen Wochen. Ich mache das, weil wir gegenwärtig erleben, wie unsere demokratischen Standards, unser Grundgesetz, die Würde des Menschen an verschiedenen Orten mit Füßen getreten werden. Und viele sagen wie Sie gerade, sie seien diffus.
Mir stellt sich die Frage: Wie kann man gerade jetzt diffus sein, wenn in deutschen Straßen „Tod den Juden“ geschrien wird, wenn Synagogen angegriffen werden, der Davidstern auf Wohnhäuser gemalt wird? Da sollte man doch das Gegenteil von diffus sein; sondern mit großer Eindeutigkeit sagen: Das geht nicht. Und zwar nicht nur, weil man sich für Jüdinnen und Juden engagiert, sondern weil man begreift, dass diese Angriffe der gesamten Demokratie, also uns allen, gelten.
Wie fühlen Sie sich dem gegenüber?
Ich fühle mich allein. Ich fühle mich einsam. Ich frage mich, ob die ganzen Jahrzehnte, die ich mich für die Demokratie eingesetzt habe, sinnlos sind. Ich frage mich: Wie steht es um die Leidenschaft und die Überzeugung der Mehrheit in Deutschland, die Demokraten sein wollen? Ich schaue mir die immer erfolgreicheren Rechtsextremisten an, mit welcher Leidenschaft sie gegen Demokratie und Menschenrechte arbeiten.
Und ich schaue in die müden Augen vieler Demokraten – natürlich gibt es Ausnahmen. Aber ich mache mir Sorgen, ob wir unsere demokratischen Standards, die wir uns versprochen haben, in zehn oder 15 Jahren noch so werden halten können. Mit dem gewalttätigen islamistischen und dem linksextremen Judenhass wird das Leben schwer erträglich.
Wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland von ihren gepackten Koffern sprachen, um das Land bei Gefahr schnell verlassen zu können, war mit Israel ein Ziel immer klar. Was ist seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober mit dieser Gewissheit passiert?
Wenn ich vor dem 7. Oktober davon sprach, meinten viele, ich würde übertreiben. Heute ist es eine breite Diskussion in der jüdischen Gemeinschaft. Wollen wir, können wir in einem Land leben, in dem man uns rät, unsere jüdische Identität momentan besser zurückzuhalten? Man muss sich einmal vorstellen, was das bedeutet: Entweder sagt man den Kindern, sie sollen in der Öffentlichkeit versuchen, sich nicht als Juden bemerkbar zu machen – und tut damit etwas, das nicht zu reparieren ist. Nämlich: Wenn die Angst groß ist, leugne deine Identität.
Das passierte so vor dem Zweiten Weltkrieg, als Juden in Ghettos gepfercht wurden und dennoch versuchten, sich anzupassen. Sinnlos, wie wir nach Hitler wissen. Oder aber Eltern entscheiden sich gegen solche Anpassung. Dann riskieren sie, dass sie einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommen, weil ihr Kind geschlagen worden ist. Damit beschäftigen sich derzeit viele jüdische Eltern.
Aber Israel war nie die einzige Destination für Juden, es ist eine Möglichkeit von mehreren. Viele sagen mir gerade: Dieser Krieg wird zu Ende gehen. Aber nicht der Judenhass in Deutschland.
Die jüdische Philosophin Hannah Arendt schrieb 1941 im US-amerikanischen Exil, vor Antisemitismus seien die Juden nur auf dem Monde sicher. Gilt das wieder? Gilt das immer noch?
Es gilt mit Sicherheit für Europa und den Teil der Welt, der 2000 Jahre lang vom Christentum geprägt wurde. Denn es ist das Christentum, das mit seiner Lüge Juden hätten Jesus ermordet, durchgesetzt hat, dass man Juden hassen kann, dass man sich an ihnen rächen müsste. Und heute ist es der radikal politische Islam.
Die Hamas nutzt Bilder und Videos ihrer perversen Gräueltaten für ihre Propaganda. Diese Bilder zu sehen, kann helfen, das Leid der Israelis zu verstehen. Soll man solche Bilder zeigen oder besser nicht?
Die Hamas will mit diesen Bildern zeigen, dass es nur eine Zukunft gibt, nämlich den islamistischen Scharia-Staat. Die ganze Welt soll sich darüber bewusst sein, dass wer sich dem widersetzt, so endet. Denn diese Bilder zeigen unsere Art zu leben. Frei, glücklich, tanzend, lachend, sich umarmend, sich küssend. Und dafür gab es diese Bestrafung.
Deshalb müssen wir uns bewusst sein: Ein großer Teil dieser Welt – wir kennen das auch aus China und Russland – verachtet und bekämpft unsere freie Lebensart, die wir Demokratie nennen. Diese Bilder sollten nicht zu häufig gezeigt werden. Aber wenn, dann müssen sie professionell und von einer kritischen Öffentlichkeit erläutert und reflektiert werden. Heute allerdings zählt Tiktok, eine Propagandamaschine – das ist die Gefahr.
Am Wochenende gab es wieder große Demonstrationen in Deutschland, die man kaum guten Gewissens als propalästinensisch bezeichnen kann, in Essen wurde offen die Errichtung eines Kalifats hierzulande gefordert. Männer und Frauen liefen dort aus religiösen Gründen getrennt. Das ist so offensichtlich ein Angriff auf unsere demokratische Art zu leben – wieso stößt das auf so wenig Gegenwehr?
Eine meiner tiefgreifenden Irritationen ist, dass so wenig eigene Widerstandskraft entsteht, solchen Ideologien in Deutschland ein klares Stoppschild zu zeigen. Diese Demonstrationen wurden nicht abgebrochen von der Polizei. Diese Demonstrationen fanden an mehreren Orten statt, aber keine für Demokratie und den demokratischen Staat Israel.
Wie sollte also damit umgegangen werden?
Der Staat muss sich selbst ernst nehmen und schnell feststellen, ob gegen Gesetze verstoßen wurde. Dass er das kann, hat er zuletzt bei Aktivisten der „Letzten Generation“ gezeigt. Die Auseinandersetzung in der Bevölkerung darüber muss deutlicher werden. Jetzt ist die unbequeme Zeit und wir werden lange brauchen, um die Korrekturen hinzukriegen. Aber wir können sie hinkriegen. Wir sind nicht hilflos. Wir müssen nur jetzt unser Gesicht zeigen.
Gleichzeitig erleben wir aktuell grassierendes antimuslimisches Ressentiment, weil vielen offenbar keine Differenzierung gelingt. Einige tönen: Wir haben es doch immer gesagt.
Jeder, der sagt: die Juden, die Muslime, die Frauen, die Brillenträger – der bedient ein rassistisches Narrativ. Das ist eine unerträgliche Verallgemeinerung. Es gibt nicht die Muslime, es gibt auch nicht die Juden und auch nicht die Christen. Es gibt auch nicht die Deutschen. Ich will das sehr klar sagen: Selbst das, was gerade passiert, darf nicht den Muslimen angeheftet werden, sondern denjenigen, die in unserem Land sowohl verbal als auch körperlich gewalttätig sind und letztlich die Zerstörung unserer Demokratie wollen.
Das müssen wir klar benennen und andererseits mit politischer Bildung bekämpfen – nicht nur in den besprochenen Gemeinschaften, sondern ganz besonders in der deutschen Bevölkerung an sich. Wir müssen auch Björn Höcke integrieren und die Tausenden seiner Wähler, um unsere demokratischen Standards wieder aufzurichten.
Die Solidarität mit der Zivilbevölkerung in Gaza scheint derweil da ihre Grenzen zu finden, wo es um ihre Aufnahme als Flüchtlinge geht. Trotz oft beschworener Bruderschaft der arabischen Länder will sie dort niemand aufnehmen.
Als erstes müssen wir positiv feststellen, dass die diplomatischen Beziehungen Israels mit Ägypten und Jordanien halten. Das wäre vor 30 Jahren undenkbar gewesen. Zweitens müssen wir die arabischen Staaten fragen, was sie denn eigentlich in den vergangenen 70 Jahren für die Palästinenser gemacht haben. Warum Kuwait oder auch Iran ihre Milliarden für Waffen an Terrororganisationen überweisen, statt den Menschen in Gaza die schönste Stadt der Welt aufzubauen. Dann könnten sie sagen: Das ist arabische Solidarität mit den Palästinensern. Stattdessen lassen sie die Menschen dort in diesem Elend.
Und Deutschland muss sich fragen – gerade auch mit Blick auf die Türkei und Erdogan, der gegen Israel und Juden hetzt – wie es geopolitisch mit diesen Ländern umgehen will. Ob nach den Erfahrungen mit russischem Gas eine LNG-Partnerschaft mit Autokraten in Katar klug ist oder sich diese Heuchelei mit den Zugeständnissen bei Menschenrechten nicht als Fehler herausstellen wird.
Schon jetzt lässt sich beobachten, wie diese Doppelmoral gerade in außenpolitischen Fragen unseren Moralbegriff in Deutschland zum Bröckeln bringt. Das fällt uns schon langsam auf die Füße.
Darüber nachzudenken, rate ich jedem, der diesen Artikel liest.
Die deutsche Debatte befindet sich schon tief in der Analyse. Haben wir damit zu schnell angefangen; uns nicht genug Zeit genommen für das Leid der Menschen in Israel?
Wenn ich überlege, wie wir im letzten Jahr Solidarität mit den Frauen im Iran, mit den Menschen in der Ukraine gezeigt haben. Zu Recht! Aber jetzt läuft dieser Konflikt seit vier Wochen und die Empathie ist nicht sichtbar geworden auf den Straßen. Dies ist eine Situation, in der wir die Gefühle nach außen tragen müssen – nur so erfahren die Israelis von unserer Solidarität.
Bittet die Mehrheitsgesellschaft zu oft Juden darum, Antisemitismus zu verurteilen, statt es einfach selbst zu tun?
Ja, aber ja! Wozu braucht man dabei einen Juden? Um zu wissen, dass der Ausruf „Tod den Juden“ antisemitisch ist?