Es kam anders als geplant: Das Openair St. Gallen war 1977 gestartet, um regionale und generell Schweizer Bands ins Scheinwerferlicht zu rücken. Das hat nur bedingt geklappt, unter den diesjährigen Headlinern sind US-Amerikaner, Franzosen, Briten und Deutsche. Erst unter den weiteren Künstlern und Bands finden sich einige wenige Schweizer.
Gründer Freddy „Gagi“ Geiger hat einst selbst internationale Akzente gesetzt, schon in den 1980er-Jahren ertönten Joe Cocker oder Bryan Adams. Seine Vision hat sich prächtig entwickelt, wie im Jahr seines Todes einmal mehr deutlich wird: Es ist eines der größten Festivals der Schweiz und wurde am letzten Juni-Wochenende von etwa 110.000 Menschen besucht.
Auch bei Deutschen ist das Openair St. Gallen beliebt – vor und auf der Bühne. Zu den Headlinern zählen neben internationalen Stars wie The Chainsmokers, Placebo und Queens of the Stone Age auch K.I.Z und Nina Chuba. Doch wie schaffen es gerade junge deutsche Musiker, sich ein so großes Publikum zu erspielen? Indem sie vormachen, wie das Musikgeschäft heute funktioniert.

Taghell die beste Stimmung
Die wahren Stars treten mittags auf, wenn es noch taghell ist. So wirkt es zumindest am Sonntag des Openair St. Gallen, denn erst lockt die Dresdner Band 01099 so viele Menschen an die Sitterbühne im Sittertobel, dass kaum noch braune Matschlöcher auf der einstigen Wiese zu erkennen sind.

Dann ist eine Rückkehrerin an der Reihe und schafft es, zu einer denkbar undankbaren Zeit zu überzeugen. Denn sie ist wieder da. Nina, Nina, Nina!, schreit die Menge passend zum gleichnamigen neuen Song, mit dem sie sich zurückmeldet. „Ich sag‘s dir nicht nochmal, merk dir, merk dir meinen Namen“, stellt die Sängerin in dem Song klar.
Normalerweise müssen sich um 16 Uhr aufstrebende Musiker ein Publikum erkämpfen. Sonntags ist das beim Openair St. Gallen ohnehin anders, denn das Programm startet und endet früher als sonst. Von einem Kampf ist aber auch so nichts zu merken: Nina Chuba strahlt, singt und siegt. Ihr hören sichtlich mehr Menschen zu als wenig später der britischen Band Placebo, auch wenn die viele Jahre länger an ihrem Ruhm gearbeitet hat.
Nina Chuba tauchte zwar erst vor zwei Jahren in den Charts auf, doch seitdem kommt man kaum an ihr vorbei. Ihr Sommerhit Wildberry Lillet war 97 Wochen in den Charts und wurde bei Spotify über 160 Millionen Mal abgerufen. Wer heute die Google-Suchmaschine um Details zum bekannten Aperitif bemüht, bekommt direkt Informationen zu diesem Song vorgeschlagen. Erst danach geht es um den Drink, Kalorien, Rezept.
Sie repräsentiert die Generation Z wie kaum andere
Doch ihren bekanntesten Hit gibt es erst als Zugabe, schließlich hat die 25-Jährige weitere Titel ihres ersten Albums „Glas“ dabei und in ihrer Pause seitdem an neuen Songs gearbeitet. Die teilt sie nach und nach, wie sie Mitte Juni in einem Interview erklärte, das nächste Album kommt erst 2025 – um den Druck zu lindern, der nach dem Achtungserfolg auf ihr lastet.

Sich um sich selbst kümmern ist eines der Anliegen der Generation Z. Nina Chuba repräsentiert diese Generation bestens: Der Style mit weiter schwarzer Hose und bauchfreiem Oberteil. Die Themen zwischen Verliebtsein (Sakura), Trennung (80qm) und Feiern (Randali). Die Vorgehensweise: Erst kommt Social Media, dann der große Erfolg.
Selfcare und Selfies auf Instagram
Nina Chuba macht damit vor, wie Musik heute funktioniert. Die Titel werden immer kürzer, auf ihrem ersten Album sind mehrere nur etwas länger als zwei Minuten – und sind doch so eingängig, dass sie in Dauerschleife laufen. Die Inhalte lassen sich gut mitsingen und sind doch nicht platt. Keine glattgebügelten Texte irgendeiner Produktion, die Songs sind (meistens und mit anderen gemeinsam) selbst geschrieben und dann ins richtige Licht gerückt.
Auf Instagram und TikTok, wo Nina Chuba ein Millionen-Publikum erreicht und trotzdem für ihre Nahbarkeit gefeiert wird. Kurz vor ihrem Auftritt zeigt sie online, wie sie mit Freunden im Fluss badet. Wenig später spielt sie vor tausenden Fans. Ein Spagat, den junge Künstler natürlich meistern. Das zahlt sich aus: 2024 spielt Nina Chuba auf diversen Openairs und ab Herbst ihre erste große Arena-Tour.
Der Sonntag des Festivals ist besonders familienfreundlich: Unter den Besuchern tummeln sich viele Kinder und springen mit Begeisterung in den Matsch, der sich nach dem Regen am Freitag und Samstag gebildet hat. Schlammgallen macht seinem inoffiziellen Namen einmal mehr alle Ehre, doch das ist man ja gewohnt.
Bereits das dritte Jahr in Folge war das Festival ausverkauft. Der Vorverkauf für 2025 hat am Montag, 1. Juli, direkt begonnen, die Tickets kosten 260 Franken inklusive 20 Franken Guthaben. Viele Besucher werden auch wegen dem Gemeinschaftserlebnis kommen – der zweiten Vision des Gründers Freddy Geiger, wie die Festival-Macher im Januar anlässlich seines Todes erinnerten.
Placebo-Effekt gibt es auch in Schaffhausen
Wenn das Festival am Abend – und nicht wie anderswo in der Nacht – endet, bleibt genug Zeit, sich für den Start in die Woche zu wappnen. Den Dreck vom Körper und den Gummistiefeln zu waschen, die Regenjacke zu trocknen, die neuen Lieblingssongs auf die Playlist zu packen. Und sich auf einen weiteren heißen Sommer mit Nina Chuba einzustimmen. Freddy „Gagi“ Geiger sei Dank.
Wer auf den Placebo-Effekt setzt und die Rocker in voller Länge erleben möchte – in St. Gallen gab es am Ende ein technisches Problem -, hat am Freitag, 9. August, im nahegelegenen Schaffhausen bei ‚Stars in Town‘ die Gelegenheit. Dann stehen die Alternative-Rocker nach Editors und Donots auf der Bühne, Karten gibt es noch ab 112 Franken zu kaufen.