Es ist ein sonniger Vormittag in Kreuzlingen, der Frühling schickt warme Sonnenstrahlen. Ein perfekter Tag, um frei zu haben und das Leben zu genießen. Bestimmt kein Tag für düstere Gedanken an einen Krieg. Doch genau die bleiben nicht fern für Anna Vollert und ihre Familie.
Es ist Tag acht des Krieges in der Ukraine und Tag fünf für Annas Mutter, Schwester, Neffe und Nichte in Sicherheit. Tag fünf im Chaos in der Kreuzlinger Wohnung von Anna und Kai Vollert und deren kleiner Tochter Liliana. Seit Sonntagabend vor einer Woche wohnen sie hier zu siebt statt zu dritt: Seitdem es Anna Vollerts Mutter Viktoria, ihre Schwester Alina und deren Kinder Mischa und Mia aus der Ukraine heraus bis an den Bodensee geschafft haben. Sie sind glücklich darüber, in Sicherheit zu sein. Doch die Gedanken an zuhause lassen sie nicht los.

Anna und Alina sprechen beide hervorragend deutsch. Beide haben in Kiew ein deutschsprachiges Gymnasium besucht. Die 35-jährige Anna hat ein Auslandssemester in Konstanz verbracht und, weil es ihr hier so gut gefallen hat, auch in Politikwissenschaften promoviert. Seither arbeitet sie in der Univerwaltung, koordiniert Lehrpläne und berät Studenten.
Auch die Liebe fand sie am Bodensee, mit ihrem Mann Kai, der aus Radolfzell stammt, hat sie eine kleine Tochter. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat sie inzwischen auch angenommen, dafür ihre ukrainische abgegeben. Sie habe jetzt zwei Heimaten, sagt sie, aber ihr Leben sei hier.
In die Kleinfamilienidylle ist vor ein paar Tagen der Krieg hereingebrochen. Mit Putins Panzern, die am 24. Februar über die ukrainische Grenze dringen, mit den Hubschraubern, die gleich am ersten Tag in Kiew auftauchen, mit den Raketen und Bomben, die für Zerstörung und Leid sorgen.
Das neue Haus einfach zurückgelassen
„Ich habe sie gleich am Morgen angerufen und gesagt: Fahrt los“, erzählt Anna Vollert. Schon seit Wochen hatten sie die Nachrichten von den russischen Truppen an der Grenze beunruhigt. Doch Mutter und Schwester zögerten. „Wir konnten uns so etwas gar nicht vorstellen, konnten einfach nicht glauben, dass es in Europa wirklich Krieg gibt“, sagt ihre ein Jahr jüngere Schwester Alina. Ihr frisch gebautes Haus in einem Vorort von Kiew wollte sie ungern verlassen. Von Nachbarn wissen sie, dass es noch steht – immerhin.
Irgendwann packen sie dann doch das Nötigste zusammen – einen Koffer mit Klamotten, Dokumenten und Spielsachen – und machen sich gemeinsam mit Ehemann Sergej und Mutter Viktoria, die im Kiewer Zentrum wohnt, im Auto auf den Weg gen Westen. Zwei Tage und Nächte benötigen sie für die Strecke an die polnische Grenze, für die man normalerweise acht Stunden unterwegs ist.
Weil viele raus wollen, staut sich der Verkehr, besonders an den Grenzübergängen: 30 Kilometer vor dem ersten, an dem sie es versuchen, 20 Kilometer vor dem zweiten. Dann erfahren sie von einem neuen Grenzübergang für Fußgänger. Die letzten fünf Kilometer gehen sie zu Fuß durch den dunklen Wald, mit Koffern, Kindern und einem Kindersitz für den fünfjährigen Mischa.

Den braucht der Kleine für die Weiterfahrt nach Deutschland. Denn an der Grenze werden Alina und die Kinder von Kai abgeholt. Der ist mit einer Übernachtung im Auto durchgefahren, gelotst von seiner Frau, die von zu Hause aus übers Handy den Kontakt hält und in Polen, wo sämtliche Hotels ausgebucht sind, in der Nähe von Breslau eine Ferienwohnung für eine Übernachtung auftreibt. Nach zwei Tagen Flucht sind alle erschöpft.
Von ihrem Mann Sergej muss sich Alina an der Grenze trennen. „Wir haben beide geweint“, erzählt sie. Sergej darf als Mann im wehrfähigen Alter das Land nicht verlassen. Wie sie das findet, dass Männer bleiben müssen? Das gefalle ihr überhaupt nicht, sagt sie. „Aber was kann man machen?“
Ob Sergej wirklich kämpfen wird, weiß Alina nicht. Als Akademiker ist man in der Ukraine nicht wehrpflichtig, Studenten absolvieren nur eine kleine Einführung. „Im Grund haben die meisten Männer keinen Umgang mit Waffen“, sagt Anna. Sergej ist bei Freunden in der Westukraine untergekommen – immerhin nicht in unmittelbarer Nähe des Kriegsgeschehens.
„Ich freue mich sehr, meine Familie zu sehen. Ich freue mich, dass sie in Sicherheit sind. Es ist Chaos, aber lustig.“Anna Vollert
2000 Kilometer südwestlich tollen die beiden einjährigen Cousinen übers Sofa und verbreiten gute Laune. Ihnen zumindest scheint der Krieg nichts anhaben zu können. Eigentlich ist es Mischa und Mia zu verdanken, dass die Familie nun in Kreuzlingen ist.
Ohne die Enkel wäre Viktoria wohl dort geblieben, und auch bei Alina war die Sicherheit der Kinder der Hauptantrieb, das Land zu verlassen. Ohne ihren Mann, ohne die Großmutter, der man mit ihren 81 die Strapazen der Reise nicht mehr zumuten kann, dafür mit vielen sorgenvollen Gedanken an die Heimat.
„Es ist viel schöner, zu Besuch hier zu sein. Mit Geschenken und allem.“Viktoria Prudius
Die Zeit bei Schwester und Schwager ist diesmal kein vorübergehender Besuch, sondern ein Aufenthalt mit ungewissem Ende. Kein Mensch weiß, wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt, ob sich der Krieg womöglich Jahre hinzieht. „Putin kann nicht einfach so aufgeben, und die Ukrainer werden sich wehren. Das kann lange dauern“, befürchtet Anna.
Alles scheint möglich, jetzt wo es sogar einen Angriff auf ein Atomkraftwerk gegeben hat – 90 Kilometer vom Wohnort der Großmutter entfernt -, ist die Erinnerung an Tschernobyl wieder da. „Man weiß nicht, wie Putin das Land hinterlassen wird. Ob da einfach nur noch Trümmer liegen? Ob man dort überhaupt noch ein normales Leben führen kann?“, fragt sich Anna Vollert.

Viktoria hat vor allem einen Wunsch: „Nach Hause zurückkehren in die eigene Wohnung und dass dort alles noch heil ist“, übersetzt Tochter Anna. „Und nicht mehr auf einer Matratze schlafen“, schiebt sie mit einem Lächeln nach. Im Moment leben die Vollerts und Familie in einem Provisorium: Oma Viktoria schläft – auf einer Matratze – im Zimmer ihrer Enkelin.
Alina, Mischa und Mia haben das Arbeitszimmer und die Schlafcouch dort bezogen. „Ein bisschen chaotisch, aber auch lustig“, findet Anna Vollert. Zu den zwei Koffern haben sich Taschen mit gespendeten Kleidern und Spielsachen gesellt. Viele Freunde und Bekannte haben etwas gegeben. „Die Hilfsbereitschaft ist riesig“, freut sich Kai.
Bei der Krankenkasse geht keiner ans Telefon
Hilfe werden die Neuankömmlinge aus der Ukraine aber auch weiterhin brauchen. Die Vollerts, die nun sieben statt drei Menschen versorgen, hoffen darauf, dass Ukrainer in der Schweiz einen ähnlichen Schutzstatus bekommen, wie er in der EU mit der Massenzustroms-Richtlinie vorgesehen ist.
Aktuell sind sie ohne Krankenversicherung, denn in der Ukraine war bei den Kassen niemand mehr zu erreichen, um eine Auslandsversicherung abzuschließen. In Deutschland sollen Flüchtlinge bald arbeiten dürfen, Anspruch auf Sozialleistungen und Gesundheitsversorgung haben. Der Schweizer Bundesrat plant mit dem Schutzstatus S etwas Gleichwertiges.

Anna Vollert ist, wie gesagt, Politikwissenschaftlerin. Als solche macht sie sich so ihre Gedanken. Zum Beispiel zu den Fehlern der Vergangenheit: Dass der Westen Putin sein Vorgehen in Moldau, Georgien und der Krim hat durchgehen lassen. Oder auch, dass Deutschland sich nach 2014 nicht aus seiner Abhängigkeit von russischem Gas befreit hat. Jetzt hofft sie darauf, dass der Westen nicht nachlässt – dass dieser Krieg zum Anfang vom Ende der Putinschen Herrschaft wird. Und dass die Ukraine irgendwann in die EU aufgenommen wird, denn da gehöre sie als westliches, modernes Land mit funktionierender Demokratie hin.

Wo wir schon bei Politik sind: Eines wollen die beiden jungen Frauen unbedingt noch klarstellen. Ihre Muttersprache ist Russisch, Ukrainisch lernten sie erst in der Schule. Die von Putin verbreitete Legende von der Diskriminierung Russischsprachiger in der Ukraine weisen sie entschieden zurück. „Ich kenne niemanden, der solche Erfahrungen gemacht hat“, sagt Anna Vollert. Aber seitdem sie täglich russische Medien verfolgt, wundert sie nichts mehr. „Die Propaganda in Russland funktioniert sehr gut.“