Deutschlands größtes Musikfestival wird immer kleiner. Jedenfalls, was die Besucherzahlen angeht. Vor zwei Jahren sind noch 92.500 Menschen zu „Rock am Ring“ gekommen, 2017 waren es nur noch 87.000. Und dieses Jahr mochten sich nur noch magere 70.000 auf dem Nürburgring einfinden, um Bands wie die Foo Fighters und Marilyn Manson zu hören.

Man kann wie Konzertveranstalter Marek Lieberberg diese Zahlen als flüchtige Laune des Zufalls abtun. Anhänger der Openair-Festivalkultur begründen sie mit schlechtem Wetter, Angst vor Terror und unattraktiven Headlinern – also künstlerischen Zugpferden im Konzertprogramm. Die Wahrheit ist, dass das Wetter 2016 weitaus schlechter war und unverdrossenes Vergnügen in Regen und Schlamm seit Woodstock zum Mythos der Festivalkultur gehört. Und die Terrorgefahr hält auch Fußballfans nicht davon ab, ihre Mannschaft anzufeuern. Der Grund liegt tiefer: Das einst boomende Geschäft der Openair-Rockfestivals geht härteren Zeiten entgegen.

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Denn „Rock am Ring“ ist mit seinem Besucherschwund bei weitem nicht allein. Deutlich weniger Menschen als zuletzt kamen auch zum „Hurricane“ im niedersächsischen Scheeßel. Dessen Schwesterfestival „Southside“ in Neuhauen ob Eck konnte zum ersten Mal seit langer Zeit erst kurz vor Beginn ein „Ausverkauft“-Schild vor die Kasse hängen. Und das Openair St. Gallen, das vor wenigen Jahren sogar schon vor Beginn des offiziellen Vorverkaufsstarts volles Haus vermelden konnte, blieb diesmal auf einigen Karten sitzen.

Nicht viele Konzerte waren ausverkauft

Deutliche Lücken gab es auch bei anderen Festivals der Bodenseeregion, etwa beim Hohentwielfestival mit Alan Parsons Project und Kontra K. Schwach besucht waren die Auftritte von Johannes Oerding und Glasperlenspiel in Meersburg, für Freundeskreis beim Salem Openair gingen nur 3800 Karten weg. Ausverkauft waren lediglich die Konzerte von Sting und den Scorpions. Was also ist da los?

Der Vorwurf an „Rock am Ring“-Veranstalter Marek Lieberberg, keine genügend attraktiven Headliner engagiert zu haben, führt zu einer heißen Spur. Bands wie Metallica oder die Red Hot Chili Peppers hätten gefehlt, heißt es vonseiten enttäuschter Fans. Doch beide Gruppen sind schon weit älter als 30 Jahre, ihre Sänger gehen auf die Sechzig zu. Jüngere Künstler hat die Rockmusik – jene, deren größten Idole einst mit 27 Jahren das Zeitliche segneten – nicht mehr zu bieten.

„Es gibt einfach immer weniger stadiontaugliche Acts“, sagt Dieter Bös, ehemaliger Chef des Konzertveranstalters Koko. „Früher konnte man mehr Künstler verpflichten, die einen Konsens bildeten, heute dagegen differenziert sich der Musikgeschmack mehr aus.“

Doch es ist nicht nur das: Die Rockmusik an sich gerät in die Defensive. Es ist nämlich keinesfalls so, dass sämtliche Festivals Besucherrückgänge zu verzeichnen haben. Während ihre Kollegen aus der Rock- und Popbranche bisweilen mühsam die Werbetrommel rühren mussten, konnten sich die Veranstalter des speziell auf Rapmusik spezialisierten Festivals „Open Air Frauenfeld“ vor Ticketkäufern kaum retten. Waren andere Festivals erstmals seit Jahren nicht ausverkauft, verhielt es sich in Frauenfeld genau gegenteilig: Zum ersten Mal waren schon Monate vor Beginn alle Karten weg.

Löst der HipHop den Rock’n’Roll als Jugendkultur ab? „Ganz klar“, bestätigt Dieter Bös diese Beobachtung: „Der HipHop hat eine ungeheure Sogwirkung.“ Die Erklärung ist einfach. Jugendliche wollen sich von ihren Eltern emanzipieren. Die heutige Elterngeneration aber stand einst selbst im Matsch von „Southside“ und „Rock am Ring“. Kein Jugendlicher will sich von Mama und Papa empfehlen lassen, wo er welche Musik zu hören hat.

Dass HipHop als Instrument zur Abgrenzung von der Elterngeneration bestens geeignet ist, zeigte sich bereits nach dem Eklat zur Echo-Verleihung. Die wegen antisemitischer Zeilen kritisierten Rapper Kollegah und Farid Bang verkauften anschließend nur umso mehr Platten. Zurzeit stehen sie unangefochten auf Platz eins der deutschen Album-Charts – das Entsetzen ihrer Eltern hat die jungen Käufer offenbar wenig beeindruckt.

Zur Verschiebung des Musikgeschmacks gesellt sich eine Ausweitung des Freizeitangebots. Zum einen sind über die vergangenen Jahre hinweg immer mehr Festivals entstanden – es versteht sich von selbst, dass damit auch eine breitere Streuung des Publikums einhergeht. Und dann gibt es auch neue Möglichkeiten des Zeitvertreibs. „Wenn junge Leute ihr Abitur feiern wollen, können sie, statt zum Southside zu fahren, sich auch in einen Flixbus nach Berlin setzen“, sagt Bös: „Solche günstigen Angebote gab es noch bis vor wenigen Jahren nicht.“

Wie konkret die Dämmerung des Festivalbooms ist, bleibt abzuwarten, noch ist der Trend nicht eindeutig genug. „Es gibt immer noch erfolgreiche Openair-Konzerte“, sagt Dieter Bös. Erst vor zwei Wochen waren die Toten Hosen in Freiburg zu Gast, Bös hat den Veranstalter Target vor Ort beraten. „Da waren 45.000 Menschen“, sagt er: „Das war zwar nicht ausverkauft, aber trotzdem ein tolles Ergebnis.“ Gestern startete in Kreuzlingen die Jazzmeile. „Die wird bestimmt voll“, gibt sich Bös im Vorfeld zuversichtlich. „Ist doch schön, wenn es wieder solche Geheimtipps gibt!“

Geheimtipps statt Massenveranstaltungen: Der Berliner Festivalexperte Marcus S. Kleiner hatte diese Entwicklung bereits vor einem Jahr im SÜDKURIER prophezeit. Gut möglich, dass er Recht behält.