Irgendwie schafft er es: Er sieht gleichzeitig abgemagert und übergewichtig aus. Der Oberkörper wirkt braun und ledrig wie ausgelatschte Cowboystiefel. Und wenn er die von Venen durchfurchten Hände hoch reißt, dann flattert im Wind, was einst ein trainierter Trizeps gewesen sein könnte. Nein, das Wort sexy kommt einem nicht in den Sinn, als James Osterberg alias Iggy Pop in Lörrach auf die Bühne stakst. Eher die Frage: Muss das sein?
Muss ein 72 Jahre alter Mann seinen halbnackten Oberkörper auf diese Weise präsentieren? Vor allem, wenn es so kalt ist, wie an diesem Sonntagabend, an dem Iggy Pop als Stargast beim 26. Lörracher Stimmen Festival auftritt. Dass die Zeit der halbnackten Rockstars vorbei ist, hat doch selbst Iggys Neffengeneration eingesehen.
Bei Guns-N-Roses-Konzerten verstecken Axl Rose und Slash ihre Plauzen taktisch geschickt hinter schwarzen Shirts. Hat Iggy den Absprung verpasst? „Scheiß auf den Absprung“, würde der Mann aus Michigan vermutlich als Antwort knurren.
Das Geschenk des Pharaos
Er fühle sich einfach verloren in einem Hemd, offenbarte er 2016, während eines Interviews. Seinen Exhibitionismus habe er sich auch nicht von anderen Rockgöttern abgekupfert, sondern von einer ganz anderen Sorte Herrscher: dem ägyptischen Pharao. Bitte was?
„Damals, als ich das College abgebrochen habe, um eine Band zu starten, hab‘ ich meinen Büchereiausweis behalten.“ Besonders Sachbücher über jahrtausendealte Kulte und Religionen habe er in dieser Zeit verschlungen. „Dabei sind mir immer wieder Bilder des Pharaos aufgefallen. Der hatte auch nie ein Hemd an. Für mich hat sich das irgendwie richtig angefühlt.“
Inspiriert von einem Sex-Symbol?
Eine interessante Erklärung. In dem Jahr, in dem Iggy seine Band, die Stooges, gründete, sorgte in Amerika aber kein Pharao für Aufregung, sondern ein anderer Sänger. Einer, über den Iggy in einem Interview mit der „Zeit“ sagte: „Er öffnete eine Tür und ich sprang hindurch.“ 1967 ließ sich Jim Morrison, Frontmann der Rockband The Doors, vom Fotografen Joel Brodsky halbnackt ablichten.
Die damals skandalträchtigen Oben-ohne-Bilder, die in dieser Fotosession entstanden, zieren heute noch Morrison-Biografien, -Poster und -T-Shirts. Zufall oder nicht: Der gleiche Joel Brodsky war auch der Fotograf, der die Fotos für das Debütalbum der Stooges schoss.
Ob Iggy Pop Jim Morrison kopiert hat? Schwer zu sagen. Dass der Mix aus Selbstverliebtheit, Provokation und Hass auf bürgerliche Konventionen, den Morrison zur Schau stellte, den blonden Bühnen-Berserker aber beeinflusst hat, gibt er gerne zu. Über seinen Besuch eines frühen Doors-Konzerts sagte Iggy zu Beispiel: „Morrison strahlte eine düstere Gefahr aus. Alle im Publikum hatten Angst vor ihm.“
Lörrach dreht durch
Dunkelheit, Gefahr, Angst. Tatsächlich ist das gar nicht so weit weg von den Szenen, die sich am Sonntagabend in Lörrach abspielen. Schon bevor das Konzert startet, ist in den vorderen Reihen Unruhe spürbar. Während der Regen niederprasselt, hört man vereinzelte Iggy-Rufe. Ein vielleicht 50 Jahre alter untersetzter Mann mit Halbglatze tänzelt auf der Stelle hin und her. Als eine Schweizerin im gleichen Alter an ihm vorbei will, versetzt er ihr plötzlich einen Schubser. Es liegt Ärger in der Luft.
Als Iggy – natürlich halbnackt – zu krachenden E-Gitarrenklängen die Bühne betritt, wirkt das wie ein Startsignal. Die Hüllen sind gefallen. Iggy prescht direkt vor, an den Bühnenrand und damit hinaus in den Regen. „Morgen dürfen wir erkältet und müde sein, aber heute Abend wird gelebt“: Das scheint die Botschaft zu sein, die der kleine Mann mit den blonden Haaren mitgebracht hat.
„The lust for life keeps us alive“ (“Die Lust am Leben hält uns am Leben“) skandiert Iggy mit tiefer Raspelstimme. Bierbecher fliegen. Das Publikum schreit mit und reißt die Arme hoch. Als anschließend die ersten Akkorde seines Hits „The Passenger“ ertönen, sprengt die Frau aus der Schweiz, die vorhin noch Opfer des Stoßes gewesen ist, dem Sänger entgegen. Gerade noch so schafft es die Security, sie abzufangen.
Das Gegenteil von Nostalgie
Ein paar Meter unter ihr tanzt die Menge Pogo. Viele der Männer und Frauen haben die 45 längst überschritten – aber sie gehen genauso intensiv mit wie die Jüngeren. Niemand ist hier, um sich daran zu erinnern, wie wild er früher einmal war. Alle sind hier, um heute wild zu sein. Wild wie Iggy, der auf die Bühne spuckt, in die Luft boxt und seinen Gürtel schwingt wie eine Peitsche. Muss das sein?
Nicht unbedingt. Wie so viele der alten Rocker-Riege könnte sich der 72-Jährige die Haare abschneiden, und ein Shirt anziehen. Statt zu fluchen, könnte er zwischen den Liedern höflich Danke sagen. Aber gerade, weil er das nicht macht; sondern alles aus sich herausholt, was sein ausgezehrter Körper zu geben hat, ist dieses Konzert in Lörrach mehr als eine Nostalgie-Veranstaltung. Iggys Auftritt ist nackt und roh. Reiner Rock N Roll. Etwas, das auch im Jahr 2019 sein darf.