Eine Oper über die RAF? Wenn das überhaupt denkbar ist, dann an der Staatsoper Stuttgart. Schließlich ist die RAF in besonderer Weise mit der Stadt verbunden: Vor 50 Jahren fand der RAF-Prozess in Stuttgart-Stammheim statt. Für das seit jeher politisch ambitionierte Opernhaus in der Landeshauptstadt fast schon ein Pflichttermin, um sich mit den historischen Ereignissen künstlerisch auseinanderzusetzen. Andererseits: Möchte man die Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin tatsächlich singend auf der Bühne erleben? Ein wenig schaudert‘s einen bei diesem Gedanken ja schon. Und was soll das dann sein? Eine Hommage wohl kaum. Und für eine Doku wäre die Oper wohl der falsche Ort.

Dass mit der Uraufführung von „Der rote Wal – ein deutsches Herbstmärchen“ bei allen Schwierigkeiten doch noch ein respektables Stück Musiktheater herausgekommen ist, hängt auch damit zusammen, dass die Macher um Markus Winter (Text), Vivan und Ketan Bhatti (Musik) sowie Martin G. Berger (Regie/Text) grundsätzliche Themen in den Mittelpunkt rücken, beispielsweise das Verhältnis von Staat und Gesellschaft oder die Frage nach den Mitteln, um Protest auszudrücken und gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen. Das ermöglicht dem Team die Durchlässigkeit zu virulenten Themen der Gegenwart. Die Beliebigkeit, die hinter einer solchen Verallgemeinerung lauert, fängt das Stück durch eine recht klar konturierte Story wieder ein.

„Als ob ich so ne Scheißtäterin wär“

Die beginnt als Theater im Theater, genauer: als Besuch einer Schulklasse in der Staatsoper, auf dem Programm steht ein Stück über die RAF. Die Kamera schwenkt ins Foyer, und man sieht zwei nervöse Lehrer mit ihrer Klasse, die gerade feststellen, dass eine der Schülerinnen noch fehlt. Die dunkelhäutige Isi (Madina Frey) rauscht schließlich an, aufgebracht, weil sie mal wieder von Polizisten aufgehalten und kontrolliert worden ist, „als ob ich so ne Scheißtäterin wär!“ Sie rappt: „Kann ich doch nichts dafür, dass man im Viertel demonstriert, weil im Gaza wieder Menschen starben.“ Ihr Freund Pip (der Stuttgarter Rapper Baron) versucht sie zu beruhigen und dreht erst mal eine. Ob Gras oder LSD bleibt offen. Aber ein starker Beginn ist gesetzt.

Das, was nun folgt, kann man gewissermaßen als Isis Trip verstehen. Denn sie findet sich auf der Opernbühne als Orca-Wal Gladis wieder, entschlossen, gegen den ausbeuterischen Walfang der Menschen zu kämpfen. Die reelle Vorlage dazu liegt in der rätselhaften Orca-Attacke auf Schiffe vor einigen Jahren.

Der Rapper Maeckes als Lone in seiner Unterwasser-Kapsel.
Der Rapper Maeckes als Lone in seiner Unterwasser-Kapsel. | Bild: Matthias Baus

Der dubiose Multimilliardär Lone (Markus Winter alias Rapper Maeckes) kommt in einer futuristischen Unterwasserkapsel angerollt (Bühne: Sarah-Katharina Karl) und verschafft Gladis die Möglichkeit, für 24 Stunden als Mensch an Land zu gehen („Arielle“ lässt grüßen), allerdings im Tausch gegen eine Flosse, falls ihre Mission scheitert. An Land gerät Gladis an Abad (Matthias Klink) und Ge (Josefin Feiler) – die Kürzel stehen für Andreas Baader und Gudrun Ensslin, die aber auch als Figuren hier nicht bis ins Letzte ausbuchstabiert sind. Film- und Bildaufnahmen aus Stammheim machen aber die Bezugspunkte deutlich (Video: Vincent Stefan).

Matthias Klink als Abad (l.) und Josefin Feiler als Ge. Die Namenskürzel erinnern an Andreas Baader und Gudrun Ensslin.
Matthias Klink als Abad (l.) und Josefin Feiler als Ge. Die Namenskürzel erinnern an Andreas Baader und Gudrun Ensslin. | Bild: Matthias Baus

Abad und Ge nehmen Gladis in ihrer Gruppe auf – ohne zu bemerken, dass sie eigentlich in einem Zielkonflikt stecken: Während Gladis für die Rechte der Wale kämpft, steht für Abad und Ge der Wal für den kapitalistischen Staat, den es zu bekämpfen gilt – so wie Herman Melvilles Kapitän Ahab Jagd auf den weißen Wal macht. Sein Roman „Moby Dick“ spielte für die RAF tatsächlich eine Rolle, sie nutzte ihn für die Vergabe von Decknamen. So kommt es in „Der rote Wal“ zu einer geschickten Verknüpfung unterschiedlichster Erzählstränge, die sich sämtlich in der Symbolfigur des Wals kreuzen.

Gladis Mission aber misslingt, unverrichteter Dinge kehrt sie ins Meer zurück – wo ihr Lone die Flosse abschneidet, sie aufisst und lapidar anmerkt: „Ich hatte Bock auf Steak, und Walflosse ist einfach sehr lecker.“ Er ist offenbar der Einzige, der aus Gladis‘ Widerstand Profit schlagen konnte.

Musikalisch Luft nach oben

„Der rote Wal“ war angekündigt als „Oper, die auch Rap ist“, aber in dieser Hinsicht bleibt noch Luft nach oben – trotz der Beteiligung der Stuttgarter Rapper Baron und Maeckes. Die Musik der Brüder Vivan und Ketan Bhatti illustriert zwar brav die Szene, treibt sie mit perkussiven Mitteln voran, schreit mal mit Gladis nach Rache oder schafft bei Bedarf eine Ruheinsel (Marit Strindlund dirigiert das Staatsopernorchester). Emotional packen vermag sie aber nicht. Meist bleibt sie dafür zu indifferent – ein paar Momente ausgenommen. Wenn Ge etwa auf ihr Leben in der Enge ihres Pastoren-Zuhauses zurückblickt, schimmert endlich etwas wie Ironie in der Musik auf. Im Zusammenhang mit Abad darf man sich kurz über eine Anspielung auf die Lehrstück-Songs im Stil Brecht/Weill freuen. Doch dann ist es auch schon wieder vorbei.

Dass mit Madina Frey als Gladis zwar eine Musical-Stimme einbezogen ist, diese aber kaum je Gelegenheit bekommt, sie entsprechend einzusetzen, muss man ebenfalls als vertane Chance werten. Die Mixtur aus klassischen Stimmen (exzellent: Josefin Feiler und Matthias Klink als Ge und Abad), Staatsopernchor (Einstudierung: Manuel Pujol), Rappern und Musicalsängerin bleibt eben doch eine Herausforderung.

Spannender Showdown

Immerhin gibt es am Schluss noch einen spannenden Showdown, in dem sich Ge und Gladis bewaffnet gegenüber stehen – die eine gewaltbereit, die andere um Deeskalation bemüht. Das Publikum wird dabei gleichsam in Geiselhaft genommen. Noch einmal geht es um die Frage, wie weit Widerstand und Protest gehen dürfen und sollen. Die Situation spitzt sich zu – und lässt die Antwort offen. Und das ist auch gut so. Viel herzlicher Applaus für die bildgewaltige Auseinandersetzung mit einem schwierigen Thema.

Weitere Aufführungen: 29. Juni; 17., 20. und 22. Juli. Wiederaufnahme in der nächsten Spielzeit. Infos:
www.staatsoper-stuttgart.de