Die Fahrten als Strafverteidiger zu den Gefängnissen sind oft lang, der Rückweg dann, auf identischer Route, noch länger, weil man den Tag im Ganzen sieht und die Schleifen der Erinnerung zu geistigen Umwegen zwingen. Der Tag hat eine neue Bedeutung, der Augenblick auch, Freiheit und Sehnsucht sind eins. Man lernt es wertzuschätzen, eine Autotür zu öffnen und einfach loszufahren.
Einen Menschen im Gefängnis zu besuchen, der seine Freiheit für lange verlieren wird, oder verloren hat, das kann nur der ermessen, der es über Jahre getan hat. Ich habe immer das Gefühl, ich gehe langsamer. Und wie bei jeder großen mentalen Anstrengung wächst die Aufnahmebereitschaft auch für das Nebensächliche.
Sieht man zum Beispiel zufällig beim Betreten einer Haftanstalt auf ihrer Mauer zur Verschönerung Worte oder Bilder aufgemalt, so trägt man ihren Sinn unbewusst zu den Gefangenen mit, denn diese Worte und Bilder besitzen plötzlich eine anziehende Kraft. Für alles, was das Erwartende verändert, scheint man im Gefängnis – und sei es nur als Besucher –, mehr als sonst empfänglich. Es existiert eine seltsame Triade zwischen dem Gefängnis, der Außenwelt und der Mauer, die das Gefängnis umschließt.
Ein Augenblick aus Stahl
Wir haben eine so gefestigte Meinung, was eine Gefängnismauer ist. Wenn ein Wort darauf abgebildet ist, verändert sie sich. Die Worte auf den Mauern der Gefängnisse, die mir begegnet sind, lauteten: Augenblick, Sehnsucht und Freiheit.
- Augenblick: Vom Besucherraum der Justizvollzugsanstalt Offenburg trifft der Blick der Fensterfront in circa 150 Meter Entfernung auf monumentale Profilbuchstaben aus Stahl, die vom Dach des Werkstattgebäudes des Gefängnisses in die Landschaft blicken. Das Wort „Augenblick“ ist aus einzelnen menschgroßen Buchstaben auf dieses Dach als Kunstwerk gesetzt und überragt die Mauer. Die Großbuchstaben sind aus Stahl und haben eine spiegelnde Haut. Diese Wortskulptur ist 30 Meter lang, sie erhebt sich über die Gefängnismauer, selbst eine Mauer, in spiegelnder Schrift. Darin spiegelt sich die Landschaft, der Betrachter selbst, das Gefängnis und der „Augenblick“.

Der Blick greift nach diesem Wort mit Staunen, denn der Augenblick repräsentiert die Welt von außen und innen zugleich. Es ist der Augenblick vor dem Augenblick, der alles Erinnern vorwegnimmt. Da ist die Landschaft, die flach abfällt mit den Äckern, und man vermutet aus dem Gefängnisfenster schönste Apfeltage und begreift: Licht und Zeit haben keine Mauern.
M., aus Albanien stammend, verurteilt wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer mehrjährigen Haftstrafe, scheiterte mit seinem Antrag auf Bewährung vorzeitig entlassen zu werden. Wegen dieses Augenblicks rief er mich. M. wartete bereits im Besucherraum, einer etwas größeren Telefonzelle. Er gehörte zu den Häftlingen, die im Gefängnis keine Probleme mit Mitgefangenen bekommen, ohne Probleme zu machen. Seine Stimme, ein dunkler Bass, ruhig und kraftvoll, wie alle seine Bewegungen. Offenburg, eine ganz junge Anstalt, ist die klarste und modernste Einrichtung, die ich kenne. Von manchen Häftlingen geliebt, wegen des ruhigen Ablaufs, von manchen gehasst, weil die Tränen in dieser Laborstimmung ersticken.
Wer seine Farbe findet, ist frei
In der Besprechung saß M. mir in einem roten perfekt gebügelten Trainingsanzug mit einem roten T-Shirt gegenüber. Er sagte, er trage nur solche. Ich hatte noch nie einen so leuchtend roten Trainingsanzug gesehen. Sein Bart war tiefschwarz und die Kanten mit dem Lineal gezogen. Alles an ihm war makellos. Er hatte sozusagen den Sonntagsanzug der Trainingsanzüge angelegt, als seine Form des Respektes, den Bart getrimmt und die Haare geschnitten. In der lehmfarbenen grauen Stille der Offenburger Haftanstalt läuteten die Farbglocken. Ich lachte, und er verstand es. Genau deshalb trug er diese Farben. Weil ich ihn verstand, fasste er Vertrauen.
Die Zellen in Offenburg bestehen aus Aluminium, Plastik und Stahl, zu den Besucherräumen führen futuristische rotbodige Tunnelgänge. M.s Trainingsanzug hatte diese knallige Farbe der Tunnelgänge, die die Besucher bei Ankunft und Abschied benutzen, also die Farbe der Freiheit. Das sagte ich ihm. Er nickte. M. kam nach etwa sechs Monaten frei. Der Gutachter, nur in anderen Worten, sah dasselbe wie ich. Wer seine Farbe findet, ist frei.
- Sehnsucht: L. saß in Geldern in Nordrhein-Westfalen in Untersuchungshaft. Als ich ihn zum ersten Mal besuchte, die Haftprüfung zu besprechen, nach langer Fahrt durch Autobahndeutschland, bin ich am Straßenrand kurz davor angehalten, diese schier unendlich weißgraue Gefängnismauer aus der Entfernung von 500 Metern zu betrachten. Besser zu lesen. Geldern ist ein Riesenknast, der Menschen allein durch die Größe kleiner macht. Unzählige Autos warteten draußen. Allein der Parkplatz schürt die Furcht, dass jeder, der hier anhält, vergessen wird, gefangen in einer Fabrik der gefangenen Zeit.
Auf die Gefängnismauer war in Großbuchstaben das Wort „Sehnsucht“ gemalt. Die Mauer zog das Wort wie eine Lokomotive den Rauch hinter sich her. Die Schrift schien aus demselben Stoff wie die Mauer. Eine Sehnsucht aus Beton. Die Gefangenen hinter der Mauer waren also doppelt eingeschlossen, von der Mauer und der Sehnsucht, nach draußen zu kommen, dies las sich mit.
Geldern schält die Zeit aus den Gesichtern der Männer, die hier einsitzen, man kann den Gefangenen beim Altern zusehen, wenn sie verzweifelt erzählen, wie es ihnen ergeht. L. hatte keine Erfahrung im Knast. Er saß wie auf sich selbst und erdrückte sich langsam. Die Sehnsucht, weil sie zu groß wurde, erstickte sein Denken. Er flehte rauszukommen, als sei ich ein Zauberer und ich berichtete ihm nüchtern über das Ergebnis der Ermittlung.
Wie mit Adressenklebern ließen die Täter ihre DNA-Spuren bei einem brutalen Überfall zurück. Sie knebelten und fesselten Geiseln und beklagten sich per SMS, in derselben Nacht, dass die Flucht vom Tatort, teilweise zu Fuß, über Bahngleise, sehr anstrengend war. Das war sein Handy. Seine DNA. Die Mittäter hatten gestanden und seinen Namen genannt. Da sah mich die Sehnsucht an, nicht der zu sein, der er war. Sie würde sich nie erfüllen. Die Mauer der Sehnsucht begann, nach ihm zu greifen. Er sah mich an und schwieg. Als ich Geldern verließ, an diesem Tag, ich sah die Sehnsucht, mit mir davonfahren. Es ist eine Reise, jede Mauer ist eine Reise.

- Freiheit: Der Jugendknast Adelsheim, als ein Medikament gegen die Langeweile der Coronazeit, beauftragte Künstler und Häftlinge der Stirnseite der Turnhalle, im Gefängnis ein Wort aufzusprühen. Eine Graffitiwolke füllt diese Mauer seitdem, und Buchstaben leuchten wie Schmetterlinge. Die Jugendlichen in Adelsheim durften das Wort wählen, mit dem die Mauer der Halle tätowiert werden sollte. Die Wahl fiel auf „Freiheit“.
Mein Mandant Z. stammte aus Vorderasien, und beteiligte sich kurz nach seiner Flucht nach Deutschland an einer Bestrafaktion an einem Verwandten, der ein Mädchen küsste. Z. war 15 bei der Tat und angestiftet und die Tat so grausam wie sinnlos. Die Folge war eine langjährige Haftstrafe.
Fiktion statt Freiheit?
Ich besuchte Z., um ihn zu überreden, an einer Therapie teilzunehmen. Diese Therapie war Voraussetzung für seine vorzeitige Entlassung. Er sprach sehr gut Deutsch, misstraute aber der Sprache und den Worten. Sprache verband er mit Befehlen, Manipulation und dem Urteil, das ihm seine Freiheit nahm. Das Wort war nie ein sicherer Ort für sein Leben. Er lehnte die Therapie ab, saß Endstrafe, verschlossen in sich, umgeben von einer inneren Mauer, die stärker war als die des Gefängnisses. Das Wort „Freiheit“ trug sie nicht.
In Adelsheim machte Z. eine Lehre als Metzger, erhielt aber nach der Entlassung keine Erlaubnis zu arbeiten, weil, als Folge des Urteils, seine Aufenthaltserlaubnis erloschen war und eine folgende Fiktionsbescheinigung die Arbeitsaufnahme zunächst verbot. Ich hätte das Wort „Freiheit“ auf der Stirnseite dieser Werkstatt durch „Fiktion“ ergänzt.