Um ein Vergehen oder Verbrechen zu beschreiben, das weit zurückliegt, scheint es immer notwendig, auch die Zeit einzufangen, in der es geschah. Gerade in bestimmten Betrugshandlungen besteht eine nicht zu übersehende Korrelation zwischen der Betrugsart, der Häufigkeit bestimmter sich wiederholender Fälle, dem Volumen des Schadens und dem Zeitgeist.

Die Cum-Ex-Verbrechen zum Beispiel stürzen und treffen nicht ohne Zusammenhang den Staat in einer Krise und Umbruch. Weder gegen organisierte Steuerbetrüger im 20-Milliarden-Bereich noch gegen die neuen Rechten bei 20 Prozent kann der Staat sich ernsthaft erwehren und ihr Handeln antizipieren.

Einem Bericht im SÜDKURIER zufolge ging ein Millionenbetrüger aus der Cum-Ex-Charge straffrei nach Hause. Die Einstellung wurde damit begründet, er habe dem Staat wichtige Aufklärungshilfe zu Anfang der Ermittlungen geleistet, was nichts anderes bedeutet, als dass er dem Staat die Lücken im Steuerrecht erklärt hat. Letztlich kommt dies einer Kapitulation gleich.

Weiß man, wie kleine Steuervergehen akribisch verfolgt werden, so ist es nur aus der Krise zu verstehen, dass bei großen Angriffen auf den Rechtsstaat dieser wenig entgegenzusetzten hat. Die großen Betrugshandlungen werden also weitergehen, denn das Vergehen des Betruges hängt an seiner Zeit, wie ein Bild am Rahmen. Aber zurück zu unserem Fall.

Auf die alte Mauer folgte eine neue

Die Stadt Berlin, unmittelbar nach dem Mauerfall, beschenkte ihre Bürger mit dem Gefühl, Staat, Geld und Eigentum überlegen zu sein, weil der Gewinn der Freiheit für die Metropole größer erschien als alles andere. Also sah man sich in der Wiedervereinigung aller lästigen Pflichten enthoben.

Finanzämter forderten aber nach dem gewährten Rausch der Freiheit von den Beseelten jeden säumigen Steuerpfennig in Jahresfrist zurück und die säumigen Mieter kämpften in den 90ern vergebens mit den Kündigungen ihrer Wohnungen, die kurzfristig zu Ateliers und allgemeinen Salons umgedichtet worden waren und für die man deshalb glaubte, keine Miete zahlen zu müssen.

Oder die neuen Eigentümer standen lächelnd vor der Tür und verlangten Herausgabe. Die Preise für Grundstücke schossen zwar nicht in den Himmel, erreichten aber locker die Höhe der abgetragenen Mauer, die die Stadt zuvor teilte.

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An der Friedrichstraße kostete ein Quadratmeter um die 10.000 D-Mark, und man hatte das Gefühl, beim Spazieren durch die Stadt und den Dreck, der an den Sohlen kleben blieb, reich geworden zu sein. Was sich teilte, teilte sich jetzt schneller und jedes Teil zerfiel erneut in Teile, genauso die Moral. Man hatte also auch aus dem Grund die alte Mauer abgetragen, weil die neuen Mauern zwischen Arm und Reich von ganz allein sich erhoben, mächtiger und genauso undurchdringlich.

Gerhard Zahner
Gerhard Zahner | Bild: Fricker, Ulrich

Herr Karl Wilhel arbeitete vor dem Fall der Mauer als Steuerberater in Berlin, musste aber zusätzlich hausverwalten, um durchzukommen, wie so viele Steuerberater in Berlin. Steuern damals waren einfach erste Fremdsprache. Mit dem Mauerfall änderte sich für sie dann alles.

Die Branche der Steuerberater blähte die Kolonialsegel und reiste nach Osten, für Karl Wilhel, vier U-Bahn-Stationen von Gneisenaustraße nach Mitte. Büro und Selbstvertrauen wuchsen rasch. Der Staat stellte Umschülerinnen aus den neuen Ländern zur Verfügung, klug und fleißig und für umsonst. Und Karl Wilhel fasste mit beiden Händen nach Mandanten zwischen Neuruppin und Neubrandenburg. Ja, dann kam die Anfrage.

Er verzieh sich die Niederlage nie

Sein Fall liegt weit zurück, und ich erzähle ihn nur, weil hier der Betrogene auch selbst ein wenig der Betrüger war. Sich selbst betrügen, rasiert dem Glück den Schädel, denn soviel ich weiß, verzieh sich Karl Wilhel diese Niederlage nie.

Sein Fall ging nie vor Gericht, warum auch. Wir hätten bunte Kiesel auf das Meer der Gerechten werfen können, sie wären nicht untergegangen, sondern wie ein Korken zu uns zurückgespült, die Justiz kapituliert immer dann, wenn ein Muster des Betruges sich krebsgleich vermehrt und die Gerichte überschwemmt.

Diese Art des Betruges, den ich jetzt beschreibe, begann so ungefähr 1988, zuerst in Schreiben, dann in Mails, und wirkt bis heute.

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Zwei, drei Jahre nach dem Mauerfall hatte Herr Karl Wilhel in dieser turbulenten Zeit ein gutes Vermögen und einen kleinen Bauch angesetzt, die Wende stützte sein Leben wie ein Spazierstock. Er besaß jetzt zwei Häuser und eine Familie, genau in dieser Reihenfolge, trug immer einen einfarbigen Poncho, selbstgestrickt, bequeme, allzu altmodische Hosen mit starker Falte. Ein Mensch, sozusagen ohne Not und mit dem Selbstvertrauen aus Charlottenburg, das neue Büro in Berlin Mitte.

Und genauso gekleidet betrat er frühmorgens aufgeregt unsere Kanzlei, in der Friedrichstraße, das Gesicht eingesunken und die Augen blickten tief zu Boden, wie ein Ballonfahrer, dem plötzlich der Auftrieb fehlt. Herr Karl Wilhel hatte durch Betrüger sechs Monatseinkommen verloren, und zum ersten Mal traf ihn die Erfahrung, sich der Wirklichkeit nicht erwehren zu können, weil er sich selbst darin spiegelte.

Eine Erbschaft, so hoch wie das Bruttoinlandsprodukt von Mali

Angebliche Erben aus Afrika, ihm zuvor vollkommen unbekannt, lobten in einem Schreiben an seine Kanzlei ein kaiserliches Honorar für eine Testamentsvollstreckung aus, konkreter, Erbgeld von Afrika, an der heimischen Steuer vorbei, nach Europa zu transferieren. Karl Wilhel fühlte sich angesprochen und hatte für das Mandat als Bedingung eine mittlere fünfstellige Summe privat in London zu hinterlegen, sozusagen als Ausweis seiner Liquidität, denn einem armen Testamentsvollstrecker wollte man sich aus Afrika nicht anvertrauen.

Das Volumen der Erbschaft betraf ungefähr das Bruttoinlandsprodukt von Mali, und wahrscheinlich zählte Karl in Gedanken die Häuser um den Kleistpark, die er sich bald aussuchen würde. Er legte rasch und ohne Zögern los und sandte sein Geld nach London, als sein Teil der Abmachung.

Blick auf die Love Parade 1999: In den 90er-Jahren war Berlin von euphorischer Stimmung geprägt. Der Steuerberater Karl Wilhel ließ sich ...
Blick auf die Love Parade 1999: In den 90er-Jahren war Berlin von euphorischer Stimmung geprägt. Der Steuerberater Karl Wilhel ließ sich davon mitreißen. | Bild: A2955 Wolfgang Kumm

Zu spät begriff sein sonst so wacher Verstand: Zwei tote Briefkästen hatten in London eine Hinterlegungsstelle gezeugt, und sein transferiertes Geld zählte die Dornen im Dornröschenschlaf der Finanzwelt, aber kein Prinzenkuss würde es je wieder erwecken.

Das Geld war, profan gesagt, fort, die Erben gab es natürlich nicht, was ihm blieb, waren das Erstschreiben mit einer großen Briefmarke und zwei, drei belanglose Folgekorrespondenzen mit kleineren Briefmarken, die er alle auf den Schreibtisch legte, aus einer braunen hübschen Mappe entnommen.

Ich fragte mit aller Zurückhaltung, als ich das Land im Absender las, da doch die Nigeria-Connection wie ein alter Kaugummi an den Zeitungen klebte und eigentlich ausgemerzt war: „Wie konnten Sie das nicht wissen?“ Da lächelte er nur. „Ich dachte, ich sei ausgesucht.“ Das machte ihn mir beinahe sympathisch, aber ich wusste spätestens, als ich das Schreiben näher prüfte, er lügt. Das war nicht das Motiv.

Gier frisst Hirn

Die Betrüger locken in diesen Schreiben aus Afrika, die strategisch voller Rechtschreib- und Kommafehler stecken, Geschäftspartner aus Europa zu Vorschusszahlungen für gewaltige Geldbewegungen.

Im Prinzip werden in der Masche Glasperlen gegen Goldstücke getauscht, nur diesmal bleibt das Glas in Europa. Gerade die Fehler im Schreiben machen die Opfer leichtsinnig, in einem Maße, das zur Ignoranz übergeht.

Der Ton der Schreiben ist immer devot, mit Übertreibungen aufgefüllt, die Gelder stammen meist angeblich aus öldunklen Geschäften, kreisen um einen verstorbenen schwarzen Milliardär, und aus politischen Gründen müsse alles schnell gehen. Kurz: Das Illegale tut sich auf wie das Licht am Morgen.

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Der Rhythmus des Schreibens ist so holprig, dass man glaubt, einem alten Feldweg in eine Landschaft zu folgen, die gänzlich unentdeckt ist. Ein Verirrter streckt dort seine Hand aus. Und würde man die Verträge mit Opferblut unterschreiben und nicht mit Tinte, der Kitschauftritt wäre perfekt.

Aber auch in Zeiten der KI, da ein Mausklick wie ein Futterspender im Vogelkäfig die Notarsprache liefert, halten die Betrüger an den Fehlern im Quadrat fest, denn der Empfänger in Euro glaubt sich gerade deshalb ganz Afrika überlegen. Gier frisst Hirn.

Gefangen in der Kolonialfalle

Geschichte wiederholt sich in den Mustern des Unbewussten. Dass ein Afrikaner es wagen könnte, so zu täuschen? Herr Karl Wilhel schüttelte den Kopf. Er sagte: „Ein Betrüger hätte sich kleinere Summen ausgedacht, diese im Schreiben wirken zwar märchenhaft, aber das macht sie real.“ Ich erwiderte: „Wie die Gewinne aus der Kolonialzeit.“

Herr Karl Wilhel steckte in der Kolonialfalle fest, wo der Glaube an die Überlegenheit blind macht. Ich erklärte offen und lapidar, wie die Sache stand. „Die Staatsanwaltschaft erhebt zwar Klage, aber beschreibt das Mitverschulden, denn ein so hohes Honorar kann nur aus illegaler Quelle fließen.“ Verwirrt entgegnete er mir: „Ich habe in kein Sklavenschiff investiert.“

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Letztlich sah Herr Karl Wilhel natürlich ein, dass dieses Honorar aus Afrika jeden Anstand sprengte, und seine Absicht, von einem geglaubt geschäftlich faktisch Unmündigen noch mehr als das Versprochene einzufahren, war offensichtlich und machte Herrn Wilhel in meinen Augen vollends unmoralisch. Diskutiert hatte er vor der Unterschrift und der Überweisung mit niemandem, wohl wissend, beim Sprechen kommen Zweifel, und die hätten ihm das Geschäft verhagelt.

Weil Geschichte nie erlischt, sondern alte hässliche Muster wiederholt, wenn die Gier sie reizt, wurde Herr Karl Wilhel von seinen Vorurteilen verführt. Er unterschrieb nicht den Vertrag, er befahl. Als Deutschland Jahre später ein wichtiges Länderspiel verlor, rief ein Mitzuseher: „In diesem Fernseher schaue ich nie wieder ein Fußballspiel.“ Ich gab ihm vollkommen recht, da ich diese Reaktion ja schon durch Karl Wilhels Abtritt kannte. Er verzieh unserer Kanzlei diese Niederlage nie.

Herr Karl Wilhel erhob sich langsam, und ein Beerdigungsunternehmer schritt aus meinem Zimmer. Die Beratung hat er nie bezahlt und wir haben nie eine Rechnung gestellt. Wir hatten nie wieder miteinander zu tun. Wenn ein Beerdigungsunternehmen sich beerdigt, ist dies immer kostenlos.