Die tiefsten menschlichen Untiefen der Anwaltstätigkeit durchsegelt der Anwalt, der nicht Strafverteidiger ist, im Familienrecht. Schon deshalb ist es auch beim Autor strenge Politik, familienrechtliche Streitigkeiten nur zu übernehmen, sofern (der Ausrichtung der Kanzlei entsprechend) wirtschaftsrechtliche Themen betroffen sind oder aber aufgrund langjähriger Mandatsbeziehungen eine Mandatsabweisung nicht möglich ist. Ein solcher Fall brachte den Autor an die Belastungsgrenze menschlichen Begreifens, letztlich vor allem deshalb, weil dem Menschen, der nicht weiß, was er will, ebenso schlecht zu helfen ist wie dem Menschen, der nicht weiß, was er braucht.
Alles fing damit an, dass unsere Mandantin niedergeschlagen im Besprechungszimmer saß, um mitzuteilen, dass sie sich von ihrem Mann trennen werde und sich scheiden lassen wolle. „Warum?“, fragt der Autor im ersten Gespräch in der Regel nicht.
Zum einen hat diese Frage nur noch in Ausnahmefällen rechtliche Relevanz für die Rechtsfolgen von Trennung und Scheidung, nachdem der Gesetzgeber das Verschuldensprinzip im Eherecht aufgegeben hat und allein die Tatsache der Zerrüttung der Ehe für eine Scheidung notwendig und ausreichend ist. Zum anderen haben die Mandanten in Unkenntnis dieses Rechtsfortschrittes die Tendenz, aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen und ausführlich über Grund und Anlass des Beziehungsendes zu berichten.
Der werte Gatte, sagte sie, spreche kaum noch mit ihr und gehe ihr aus dem Weg; ein Eheleben auch in sexueller Hinsicht finde nicht mehr statt, das gehe nicht, allzumal weder sie noch ihr Mann in einem Alter seien, wo dies verständlich erscheine, und ihre Annäherungsversuche blieben ohne jeden Widerhall. Ehe ohne Sex und Zärtlichkeit, das sei doch nichts wert. Auf die Frage, ob es eine andere Frau gebe, reagiere ihr Mann verneinend.
Den Hinweis des Autors darauf, dass es sich auch um einen anderen Mann handeln könne, bestrafte die Mandantin wortlos mit einem Blick, vor dem sich auch ihr Gatte sicherlich gefürchtet hätte. Wir klärten über die rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen einer Trennung auf; sie nahm diese zur Kenntnis.
Der Mann versteht die Gründe nicht
Wenige Tage später teilte die Mandantin mit, sie habe sich nun getrennt. Ihr Mann habe, nachdem sie ihm gesagt habe, dass sie sich durch uns anwaltlich beraten lasse, ebenfalls eine Anwältin aufgesucht. Diese werde sich bei uns melden. Mit der elektronischen Nachricht erreichte uns eine Aufstellung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse unserer Mandantin.
In der Tat zeigte wiederum nach einigen Tagen eine Kollegin die rechtliche Vertretung des Ehemannes an und bat um die uns bereits vorliegenden Auskünfte, die sie für ihren Mandanten auch mitgesandt habe. Der Bitte kamen wir nach, sodass nach nicht einmal zwei Wochen die Tatsachen für die Berechnung von Zugewinnausgleich, Unterhalt und Versorgungsausgleich auf dem Tisch lagen.
Ein freundliches Telefonat mit der Kollegin ließ uns aufhorchen: Ihr Mandant habe zwar keine Ahnung, warum sich unsere Mandantin von ihm getrennt habe, aber habe jetzt auch keine Lust mehr, sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen. Es würde ein Vorschlag für eine Trennungs- und Scheidungsfolgenvereinbarung gemacht, die sämtliche Fragen bis zur und nach der Scheidung regele.
Dieser Vorschlag erreichte uns zeitnah, war inhaltlich mehr als fair und nicht zu beanstanden. Dies teilten wir unserer Mandantin mit, die nun viel reiste und – wie sie uns mitteilte – mit dem Modell „Freundschaft plus“ (also Freundschaft und bei Einverständnis Sex) ausgezeichnet fahre. Die Vereinbarung sei in Ordnung, nur müsse eben nun noch der Hausrat aufgeteilt werden. Das könne man dann ja beim Notar besprechen, da werde es sicher keine Probleme geben.
Militanter Kampf um Tasse und Kanne
Der Notar war verblüfft über die fast freundschaftliche Atmosphäre, die Ehegatten in Trennung begrüßten sich zugewandt, aber mit amtlicher Distanz. Die Kollegin und der Autor lächelten sich zuversichtlich an. Der Notar hatte die abgestimmte Vereinbarung schnell verlesen und kam zur Frage der Verteilung des Hausrates. Auch hier schien zunächst alles abgesprochen zu sein – allerdings merkte man, dass bei bestimmten Hausratsgegenständen durchaus etwas Nachdenklichkeit herrschte.
Was dann folgte, war atemberaubend: Ein Teeservice, das von einem Hotelaufenthalt in Schloss Elmau mitgebracht worden war, wurde mit heftigster Militanz von beiden Eheleuten beansprucht. An Tasse und Kanne entzündete sich mit einem Mal, was offensichtlich lange unter einer Art Verschluss geruht hatte: Heftigste Vorwürfe der Ehefrau über Gefühllosigkeit und Ignoranz des Ehemannes, die in Teilen aufgrund eines keifenden Überschlagens der Stimme der Mandantin kaum verständlich waren; zynische Antworten des Ehemannes in Auslandslautstärke zur Dämlichkeit und Hinterhältigkeit der Ehefrau.
Die Kollegin und der Autor versuchten zunächst einzugreifen und zu schlichten, gerieten jedoch ebenfalls unter Beschuss, und es blieb nach etwa einer halben Stunde keine andere Lösung, als den Termin abzubrechen und in entgegengesetzte Richtungen das Notariat zu verlassen.
Es folgte ein heftiger rechtlicher Schlagabtausch mit außergerichtlichen Schriftsätzen; man versuchte sich gegenseitig in ein möglichst schlechtes Licht zu setzen und feilschte über 25 Monate hinweg um jede noch so kleine Position in Vermögensfragen; für den Hausrat wurde schließlich ein Losverfahren vereinbart, das jedoch vom Ehemann wieder aufgekündigt wurde, weil das Teeservice aus Schloss Elmau nicht ihm, sondern der Ehefrau zugelost wurde.
Für Argumente wenig empfänglich
Es folgte die Einleitung des Scheidungsverfahrens, ohne dass eine beurkundete oder auch nur absehbare Vereinbarung für die Trennungs- und Scheidungsfolgen vorlag. Der überaus zuverlässigen und bemühten Kollegin war keinerlei Vorwurf zu machen – unsere Mandantin schien für rationale Argumente ebenso wenig empfänglich wie ihr Ehemann.
Die Mandantin berichtete von weiteren Erfahrungen mit dem „Freundschaft-Plus-System“, die allerdings weniger euphorisch klangen, sondern vor allem davon geprägt schienen, dass „Plus“ doch eine gewisse Exklusivität und Treue für die Mandantin beinhaltete, die regelmäßig von den neuen Partnern als nicht systemimmanent betrachtet wurde. Folge war ein Verletztsein und die Beendigung der Freundschaft durch unsere Mandantin.
Nach fast drei Jahren Kleinkriegsführung saßen wir schließlich wieder beim Notar, der freundlich, aber etwas verunsichert lächelte. Immerhin waren uns aufgrund der räumlich getrennten Lebensbereiche und fehlender Einbeziehung von Kindschaftsthemen die schlimmsten Farben eines Rosenkrieges erspart geblieben. Einzig offener Punkt: Teeservice Schloss Elmau.
Nachdem der Autor bereits wieder den flackernden Blick der Mandantin und das Klirren in der Stimme des Ehemannes wahrgenommen hatte, entschloss er sich zu einem verzweifelten Vorstoß: Er nehme das Teeservice in seiner Kanzlei in Verwahrung und wer auch immer von den geschiedenen Eheleuten nach einem Jahr ab Rechtskraft der Scheidung als erster nach dem Teeservice frage, der werde es dann erhalten. Man zog sich zur Beratung zurück und erstaunlicherweise wurde der Vorschlag angenommen und notariell protokolliert. Zwei Tage später wurde das Teeservice im Archiv unserer Kanzlei eingelagert.
Bis heute liegt das Service in der Kanzlei
Am Tag der geplant einvernehmlichen Scheidung herrschte vor Gericht eine bedrückende Atmosphäre. Irgendetwas stimmte nicht. Die Mandantin gab dem Autor matt die Hand und wich seinem Blick aus. Wir mussten nicht lange auf die mehr als überraschende Ursache warten: Es beantworteten beide Mandanten zum Entsetzen der gegnerischen Anwältin die Frage, ob man denn geschieden werden wolle – nachdem die Eheleute sich für etwa 30 Sekunden nicht innig, aber sehr bestimmt in die Augen gesehen hatten – mit einem „Nein“.
Die Richterin fasste sich schneller als die anwaltlichen Organe der Rechtspflege. „Dann weiß ich nicht, warum Sie hier sind. Besprechen Sie sich mit Ihren Anwälten, ich habe dafür keine Zeit. Auf Wiedersehen“. Sprach es, erhob sich und verließ uns und den Raum. Das Schweigen wurde dadurch gelöst, dass auch die nicht geschiedenen Eheleute vorsichtig, nicht gemeinsam, sondern erst die Mandantin, dann ihr Mann, mit einem leisen: „Also dann, einen schönen Tag noch“ den Sitzungssaal verließen. Die Kollegin und der Autor bleiben zurück, ratlos.
Auf unsere Versuche, die Mandantin zu erreichen, kam keine Reaktion. Auch die Kollegin hörte von ihrem Mandanten nichts. Wir versandten unsere ob des zeitlichen Aufwandes sehr stattliche Rechnung, die keine 72 Stunden später bezahlt war. Nach etwa einem Monat erreichte uns ein handgeschriebener Brief der Mandantin, in dem sie sich freundlich für unsere Bemühungen bedankte.
Sie entschuldigte sich mit keinem Wort, schien aber gleichwohl irgendeine Erklärung geben zu wollen; die entscheidende Passage sei hier wiedergegeben: Lieber Ehe minus als Freundschaft Plus. Das Teeservice befindet sich bis zum heutigen Tag im Archiv der Kanzlei. In einem Paket, auf dem der Name der Eheleute sowie ein Plus und ein Minus zu lesen sind.