Preisfrage: Nennen Sie einen Rockstar unter 30 Jahren. Sie haben 30 Sekunden. Nicht schummeln! Einen, den alle kennen – nicht so einen finnischen Heavy-Metal-Sänger mit Drei-Meter-Bart. Nein, wir sprechen von einem Mick Jagger in Jung, einem Jimi Hendrix in Lebendig. Sie brauchen nochmal 30 Sekunden? Kein Problem! Nehmen Sie sich ruhig 30 Minuten. Sie werden keinen finden.

Die Rockmusik steckt in der Krise. Das sagt nicht irgendwer, sondern einer, auf den das Label Rockstar passt wie der Klinkenstecker in die Verstärkerbuchse: Led-Zeppelin-Sänger Robert Plant. „Rock hat an Dampf verloren. Das damit verbundene Gedankengut hat seinen Höhepunkt überschritten.“ Der britische DJ Paul Gambaccini – sie nennen ihn Professor Pop – sieht das ganz genauso: „Rock als beherrschender Stil ist Musikgeschichte!“

Bild mit Symbolcharakter: Rock-Sänger Axl Rose ging es schon mal besser.
Bild mit Symbolcharakter: Rock-Sänger Axl Rose ging es schon mal besser. | Bild: Jose Manuel Vidal / EPA / dpa

Aber weg von den britischen Musikgrößen. Hinein in unsere Region. In Rheinfelden spürt Peter Linsin, wie der Rockmusik der Saft ausgeht. Seit zwei Jahren führt sein Musikgeschäft keine elektrischen Gitarren mehr. Der einfache Grund: „Am Ende bleibt nichts mehr hängen.“ 150 Kilometer entfernt beobachtet auch Folker Vollberg in Überlingen, dass sich E-Gitarren zu Ladenhütern entwickeln. „Ich weiß nicht, woran das liegt“, sagt der Mann mit dem ungewöhnlichen Vornamen gegenüber dieser Zeitung. Er habe aber von vielen Kollegen Ähnliches gehört.

Der Singener Musikhändler Helmut Assfalg ist nicht weniger gefrustet. Er vermutet, dass gerade bei teureren E-Gitarren ein gewisser Sättigungsgrad erreicht ist. „Und die Altersgruppe, die sich für diese Instrumente interessiert, stirbt langsam weg!“ Patrick Ziegler von Guitarra in Villingen hat sogar eine These entwickelt, warum die Verkaufszahlen für Rockgitarren einbrechen: Die Vorbilder fehlen. „Es gibt kaum junge Bands, mit denen man sich identifizieren kann.“ Das letzte Mal, dass ihm Jugendliche, von einer Gitarrenband inspiriert, den Laden leer kauften, ist aber auch schon gute elf, zwölf Jahre her. Die Teenie-Herzensbrecher von Tokio Hotel sorgten damals für steigende Absatzzahlen bei Guitarra.

Helmut Assfalg beobachtet, dass Jugendliche heute nicht mehr viel mit Instrumenten anfangen können. Wenn überhaupt sieht sie der ...
Helmut Assfalg beobachtet, dass Jugendliche heute nicht mehr viel mit Instrumenten anfangen können. Wenn überhaupt sieht sie der Singener Musikhändler an elektronischer Musik interessiert. | Bild: Sabine Tesche

Die Musikhändler haben Probleme, ihre Instrumente loszuwerden. Nun gut. Vielleicht kaufen Jugendliche ihre Rockäxte heute einfach lieber im Internet? Nicht ganz. Im vergangenen Jahr konstatierte die „Washington Post“, dass E-Gitarren-Verkaufszahlen in den USA von 1,5 Millionen im Jahr 2007 auf zuletzt eine Million geschrumpft seien. Der größte amerikanische Musikhändler Guitar Center habe mittlerweile 1,6 Milliarden Schulden angehäuft. Und auch die renommierten Hersteller Gibson und Fender schrieben schon länger rote Zahlen.

Die einbrechenden Verkaufszahlen sind ein Symptom. Wie schlecht es dem Patienten Rockmusik wirklich geht, fällt aber erst auf, wenn man seinen Zustand mit dem anderer Musikgenres vergleicht. Roger Daltrey, Sänger von The Who, sang 1965 im Song „My Generation“ noch, dass er lieber sterben, als alt werden wolle. Heute ist er 73 Jahre alt und trifft eine erstaunliche Diagnose: „Die Einzigen, die wirklich etwas zu sagen haben, sind die Rapper“, diktierte Daltrey im vergangenen Jahr einem Journalisten der „London Times“ in den Block.

 

Schlaglichter aus vier Jahrzehnten Rock


Der Blues hatte ein Baby und sie nannten es Rock ’n’ Roll. Das sagt zumindest Blues-Sänger Muddy Waters. Bis heute sind sich Historiker nicht einig darüber, wie und wann die Rockmusik entstanden ist. Fest steht: Diese neun Momente sind definitiv Rockgeschichte.
  • 1954: „Rock Around the Clock“
    Bill Haley ist der erste Rock ’n’ Roll-Sänger, dem der Durchbruch in den Charts gelingt. Jugendliche feiern die neue Musik. Frank Sinatra bezeichnet sie als hässlichste Ausdrucksform, die er je habe mit anhören müssen.
  • 1957: Der König und der Hüftschwung
    Elvis Presley machte den Musikstil in den 50er-Jahren zum Massenphänomen.
    Elvis Presley machte den Musikstil in den 50er-Jahren zum Massenphänomen. | Bild: Tennessee_Tourism
    Elvis Presley popularisiert den neuen Musikstil – mit viel Sex Appeal. Zu viel für die Macher der Ed Sullivan Show: Sie beschließen, den King nur von der Hüfte aufwärts zu filmen.
  • 1962: Die Beatles in Hamburg
    Noch sind John, Paul und George weitgehend unbekannt. Auf der Reeperbahn stoßen sie bereits auf ein dankbares Publikum. Ein Jahr später komplettiert Ringo das Quartett. Mit „She Loves You“ folgt der erste Nummer-1-Hit.
  • 1965: Bob Dylan und die Steckdose
    Der Messias des Folk tauscht seine Akustikklampfe gegen eine E-Gitarre ein. Dylan wird danach als Judas bezeichnet, sein rockiges „Like a Rolling Stone“ als Jahrhundertwerk gefeiert.
  • 1967: Der Sommer der Liebe
    Poet und Rampensau: Doors-Sänger Jim Morrison prägte das Rockstar-Image.
    Poet und Rampensau: Doors-Sänger Jim Morrison prägte das Rockstar-Image. | Bild: unbekannt
    Es ist die Zeit von Flower Power. Mit „Light my Fire“ liefern die Doors den passend sinnlichen Soundtrack. Zwei Jahre später erreicht die Hippie-Bewegung mit dem Woodstock-Festival ihren Höhepunkt.
  • 1973: Psychedelischer Verkaufsschlager
    Die britische Band Pink Floyd veröffentlicht „Dark Side of the Moon“. Das sphärische Album hält sich rekordverdächtige 744 Wochen lang in den US-Charts.
  • 1977: Punks gegen die Monarchie
    Die Sex Pistols überzeugten eher durch ihr provokantes Auftreten als mit Virtuosität.
    Die Sex Pistols überzeugten eher durch ihr provokantes Auftreten als mit Virtuosität. | Bild: dpa
    Das silberne Thronjubiläum von Queen Elizabeth begehen die Sex Pistols mit einer Punkrock-Version der Nationalhymne. „God Save the Queen“ ist provokant. Die BBC weigert sich, das Lied zu spielen.
  • 1985: Treffen der Großen
    Das Live-Aid-Konzert in Wembley war einer der Höhepunkte des Stadion-Rock.
    Das Live-Aid-Konzert in Wembley war einer der Höhepunkte des Stadion-Rock. | Bild: Norbert Försterling/dpa
    Knapp zwei Milliarden TV-Zuschauer sehen zu, wie sich die Stars aus Rock und Pop beim Benefizkonzert Live Aid die Klinke in die Hand geben.
  • 1994: Selbstmord mit 27
    Der Rockstar als Aktivist: Neil Young singt auch heute noch gegen Ungerechtigkeit an.
    Der Rockstar als Aktivist: Neil Young singt auch heute noch gegen Ungerechtigkeit an. | Bild: Rolf-D._Wizany / dpa
    Kurt Cobain, Sänger der Band Nirvana, nimmt sich mit einer Schrotflinte das Leben. In seinem Abschiedsbrief zitiert er den kanadischen Songschreiber Neil Young: „Es ist besser auszubrennen, als zu verblassen.“
(das)

 

 

Der Blick auf die deutsche Musikszene gibt ihm recht. Rapstars wie Kollegah und Haftbefehl sprechen eine andere Sprache als die Generation Ü-50. Ihre Texte führen sowohl auf den Pausenhöfen als auch in den Feuilleton-Redaktionen zu heißen Diskussionen. Dem Rapper Casper wurde attestiert, mit seinem Album „XOXO“ der Verzweiflung einer desillusionierten Jugend Ausdruck verliehen zu haben. Die Tageszeitung „Die Welt“ schrieb von der „Stimme einer Generation“.

 

In seinem Mutterland ist Rap sowieso schon lange auf dem Vormarsch. Geboren in den Ghettos von New York ist die frühere Minderheitenmusik 2017 zum verkaufsstärksten Musikstil Amerikas herangewachsen. Sprachkünstler wie Kendrick Lamar beweisen, dass sich Rap vom prolligen Gangsta-Image befreit hat. Sie sind die Anti-Trumps, die mit experimentell anmutenden Alben den Soundtrack zur Black Lives Matter Bewegung liefern. Und während Lamar und Kollegen das Sprachrohr gesellschaftlichen Protests schwingen, lässt der Präsident bei seinen Großveranstaltungen alte Songs der Rolling Stones abspielen. Nicht wirklich überraschend.

Hier und jetzt: Rapper Kendrick Lamar gilt als einer der einflussreichsten US-Musiker.
Hier und jetzt: Rapper Kendrick Lamar gilt als einer der einflussreichsten US-Musiker. | Bild: Gian Ehrenzeller/dpa

Die rebellischen Botschaften sind ein Grund, warum sich die Jugend von Hip-Hop inspiriert fühlt. Neben rein praktischen Überlegungen – das Komponieren am Laptop ist bequem und billig – erscheint Rap aber auch einfach die zeitgemäßere Kunstform zu sein: Rapsongs setzen sich in Musik und Text aus einer Vielzahl von Fragmenten zusammen. Die Zusammenarbeit unterschiedlicher Künstler ist keine Ausnahme, sondern Genre-Konvention. Diese von digitaler Technik angeschobene Vielfalt reflektiert den Zeitgeist des Smartphone-Zeitalters eher als die mittlerweile mehr als 70 Jahre alte Classic-Rock-Kombination aus Bass, Stimme, Schlagzeug und Gitarre.

Rock ist nicht mehr Protest

Das war es also? Die Rapper kommen mit dicken Beats aus dem Untergrund hervor und blasen die Rockopas von der Bühne? Glaubt man Udo Dahmen, dann stehen die Dinge nicht ganz so einfach. Im Gespräch mit dem SÜDKURIER verweist der Professor der Popakademie Baden-Württemberg darauf, dass sich das Musikhören generell verändert hat. „Der normale Konsument hört heute querbeet.“ Das Wort Konsument ist kein Zufall: In Zeiten von Streaming-Diensten wie Spotify steht die Stimmung des Nutzers im Vordergrund. Und der hat statt den Alben seiner Lieblingsrocker den kompletten Katalog der Musikgeschichte zur Verfügung. Weil das schnell überfordern kann, trifft die Maschine eine Liedauswahl, die sich an die gewünschte Stimmung anpasst. „Die Playlisten tragen Namen wie ‚Morgenstimmung’. Oft ist den Nutzern gar nicht mehr klar, was sie da überhaupt hören.“

Aber auch die Musiker selbst bringen die Genregrenzen zum Verschwimmen. Bruce Springsteen besucht Taylor- Swift-Konzerte. Bushido rappt die Strophen zu Refrains von Karel Gott. Die alte Masche „Sag mir, was du hörst, und ich sag dir, wer du bist“ scheint nicht mehr zu funktionieren.

„Auch die Bruchkanten zwischen den Generationen sind nicht mehr da“, betont Udo Dahmen. „Früher gab es noch unversöhnliche Gräben zwischen Rolling-Stones- und Heino-Hörern.“ Heute könnten sich Eltern und Kinder die Musik von Sting oder Beyoncé problemlos zusammen anhören, meint der Professor vergnügt. In seinen Augen ist Rock längst zu einem Mehrgenerationenprojekt geworden. „Rockmusik verbindet, anstatt zu trennen! Das ist doch eine positive Entwicklung.“

Der letzte Megatrend

Dahmen hat die Schwarzseherei satt: Die Auswahl an guter Rockmusik sei heute größer als je zuvor. Denn neben arrivierten Künstlern wie Deep Purple, Eric Clapton und Co, die immer noch problemlos Arenen füllen, gebe es jede Menge großartige Nachwuchsbands. Er erinnert an Sizar und The Intersphere. Zugegeben – das sind beides Bands aus den eigenen vier Wänden der Mannheimer Popakademie. Aber Dahmen gibt sich nicht so leicht geschlagen: „In jeder Region Deutschlands gibt es immer noch mindestens 1500 Bands, die sich auf den Bühnen und in Probekellern austoben.“ Dass diese Künstler nicht mehr die gleiche Aufmerksamkeit erregen wie die Rockstars vergangener Jahrzehnte, habe einfach damit zu tun, dass sich Rock in unzählige Untergenres aufgespalten hat.

„Der Bruch kam in den Neunzigern.“ In wenigen Jahren hätten damals verschiedene von E-Gitarren dominierte Stile an Bedeutung gewonnen. Stile, die mit keiner Silbe verraten, dass sie etwas mit Rock zu tun haben: Dahmen spricht vom Grunge, den Gruppen wie Pearl Jam und Nirvana bekannt gemacht hätten. „Parallel kam mit Blur und Oasis der Britpop auf. Dazu gab es den Neopunk von Green Day und eine aufblühende Heavy-Metal-Szene.“ Sobald sich ein Stil so weit diversifiziert, funktioniere ein Oberbegriff wie Rock einfach nicht mehr. „Innerhalb des Genres gibt es dann keinen neuen Megatrend mehr – die Diversifizierung an sich ist der Megatrend.“

Interessant, dass dieser letzte Mega­trend ausgerechnet in die Zeit fällt, in der mit Nirvana-Frontman Kurt Cobain der letzte prototypische Rockstar stirbt. Vielleicht ist das die tröstende Botschaft für Rockfans: Rock ist nicht tot. Wenn überhaupt, dann der Rockstar! Gemeint sind damit aber nicht die Todesfälle von Kurt Cobain, Lemmy Kilmister, David Bowie, Tom Petty und anderen Genregrößen. Nein, gemeint ist der Rockgott als mythisch überhöhte Figur. In unserer demokratisierten Musikwelt hat er einfach keinen Platz mehr. Und das ist vielleicht gar nicht so tragisch!

 

Den Strom abgedreht

Jimi Hendrix hat sie hinter dem Rücken und mit der Zunge bespielt. In Monterey drosch er seine Fender Stratocaster auf den Bühnenboden und zündete ihre Überreste an: „Man opfert die Dinge, die man liebt: Ich liebe meine Gitarre.“ Der Rockstar und seine E-Gitarre, über Jahrzehnte hinweg führten sie eine ganz besondere Beziehung. Heute scheint das Instrument an Attraktivität verloren zu haben. 2010 wurden in den USA erstmals seit Jahrzehnten mehr akustische als elektrische Gitarren verkauft. Auch die erfolgreichsten Gitarristen unter 40 sind nicht mehr im Rock anzutreffen. Der britische Popstar Ed Sheeran ist ein Beispiel. Der Geschäftsführer der Gitarrenfirma Fender, Andy Mooney, glaubt, dass der einflussreichste Gitarrist mittlerweile eine Gitarristin ist: Taylor Swift. Auch sie spielt Akustikgitarre und ist gerade Mädchen ein echtes Vorbild. (das)