Vor dem Schlafengehen wird gebetet, zum gemeinsamen Mittagessen wünscht man sich gegenseitig einen guten Appetit und sonntagmorgens geht es in die Kirche. Das ist doch selbstverständlich? Ganz und gar nicht!

Rituale gelten als rückständig

Rituale wie diese verlieren in unserer Gesellschaft schon seit Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung. Mehr noch: Ist von „ritualisierten Abläufen“ die Rede, so geschieht das nicht selten mit verächtlicher Intention. Wer Rituale pflegt, der gilt manchem als hoffnungsloser Fall, rückständig, innovationsfeindlich, unflexibel.

Ein Zuhause in der Zeit

Dabei sind Rituale lebensnotwendig. Sie sind in der Zeit das, was im Raum ein Zuhause ist: eine Wohnung, in der man sich heimisch und geborgen fühlen kann. Diese Definition stammt von Byung-Chul Han. Der 60 Jahre alte Philosoph und Kulturwissenschaftler befasst sich mit den Auswirkungen des Neoliberalismus auf unsere Gesellschaft und unser verändertes Verhalten infolge der Digitalisierung.

Der Philosoph Byung-Chul Han forscht zu Ritualen.
Der Philosoph Byung-Chul Han forscht zu Ritualen. | Bild: Britta Pedersen

Rituale, sagt Han, stabilisieren als Wohnungen der Zeit unser Leben. Und genau das widerspricht unserer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Um den Konsum am Laufen zu halten, benötigt diese Ordnung haltlose Menschen auf der ständigen Suche nach neuen Reizen und Glücksversprechen.

Gebrauchen statt verbrauchen

Mit einem Ritual lässt sich schwer Geld verdienen, weil in ritualisierten Abläufen Gegenstände nicht ver-, sondern gebraucht werden. Anders verhält es sich mit Emotionen. „Dinge kann man nicht unendlich konsumieren, Emotion aber schon“, schreibt Byung-Chul Han in seinem neuen Buch „Vom Verschwinden der Rituale“ (siehe unten): „So eröffnen sie ein neues, unendliches Konsumfeld.“

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Mit Emotionen lassen sich Fernreisen verkaufen, Smartphones oder auch Erfrischungsgetränke. Und weil wir den Konsum von Emotionen niemals auf die Dinge beziehen, sondern auf uns selbst, werden wir mehr und mehr zu Narzissten. Geschickte Verkäufer verstehen es, Emotionen mit Moral zu verbinden. Dann kaufen wir Produkte aus vermeintlich moralischen Gründen (etwa vegane oder Fair-Trade-Produkte), nicht merkend, dass sich auch in hinter dieser Moral oftmals bloß unser Narzissmus verbirgt: „Der Neoliberalismus beutet vielfach die Moral aus.“

Intensives Leben?

Wir fallen auf Reklame herein, die uns ein intensives Leben verspricht, wo sie doch eigentlich nur intensiven Konsum meint. In Wahrheit ist an die Stelle von Intensität längst das Serielle getreten: Netflix-Serien sind deshalb so beliebt, weil sie unserem ständigen Durst nach neuen Reizen entsprechen.

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Rituale mögen oft nur eine Form sein. Diese Form aber befreit uns von unserem Drang nach ständiger Selbstoptimierung und -inszenierung. Bei gemeinschaftlich praktizierten Ritualen geht es gerade nicht um uns, sondern um alles andere. Und weil uns das so fremd geworden ist, stehen wir dem Ritual meist ratlos gegenüber. Dass Kulturen wie die japanischen Samurai ritualisierte Selbstmorde herausbilden konnten, erscheint uns heute völlig unverständlich, ja geradezu wahnsinnig. Wie kann man nur sein Leben für ein schnödes Ritual hergeben? Es gelingt uns heute ja nicht einmal mehr, die rituelle Ruhe eines gewöhnlichen Sonntags als eigentliches Ziel unserer Arbeitswoche zu verstehen! Längst haben wir sie umgedeutet in eine bloße Erholungspause in Zeiten des ständig steigenden Leistungsdrucks.

Tod als Teil des Lebens

Hochritualisierte Gesellschaften wie die japanische erkennen im Ritual eine heimatliche Wohnstätte in der Zeit. Wer diese Fähigkeit besitzt, fürchtet sich nicht mehr vor dem Tod, weil er durch Initiations- und Opferrituale darin geübt ist, ihn als einen Aspekt des Lebens zu begreifen. Unsere Gesellschaft der Produktion dagegen ist von der Todesangst nicht nur beherrscht: Sie ist auf diese regelrecht angewiesen. „Die Verbannung des Todes aus dem Leben ist konstitutiv für die kapitalistische Produktion“, schreibt Byung-Chul Han.

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Leben, heißt es bei ihm, bedeute heute nichts anderes mehr als Produzieren. Rituale produzieren nichts, sondern wiederholen nur. Das Leben aber, das sich dem Diktat der Gesundheit, Optimierung und Leistung unterwirft, gleicht einem bloßen Überleben: „Ihm fehlt jeder Glanz, jede Souveränität, jede Intensität.“ Rituale mögen uns manchmal wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten erscheinen. Doch manches, was vergangen ist, lohnt eine Wiederentdeckung: Lasst uns wieder mehr Rituale pflegen!

Byung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale. Ullstein-Verlag, Berlin 2019. 128 Seiten, 20 Euro