Frau Boie, wir möchten mit Ihnen über das Bücherlesen sprechen. Was macht es mit uns?
Beim Lesen passiert etwas ganz Besonderes. Allerdings erst dann, wenn wir schon so gut lesen können, dass es uns keine Mühe mehr bereitet.
Was ist dieses Besondere?
Dass wir beim Lesen ständig mit unseren eigenen Gedanken und Gefühlen dazwischen gehen. Der Text löst eine Fülle von Assoziationen aus. Nehmen Sie nur das Wort "Vater": Taucht es in einem Text auf, so entstehen in Ihrem Kopf völlig andere Bilder als in meinem. Zwar wird dieser Prozess natürlich durch den Text gesteuert. Trotzdem ist die Folie, auf der er stattfindet, unsere eigene Erfahrung. Das ist das Besondere.
Merken wir das beim Lesen?
Manchmal schon. Größtenteils aber läuft das unbewusst ab. Beim Lesen setzen wir uns ständig mit unseren eigenen Erinnerungen und Gefühlen auseinander. Aus diesem Grund kann Lesen auch eine therapeutische Wirkung haben.
Bei anderen Medien kann das nicht passieren?
Beim Film zum Beispiel bekommen sie diese Bilder ja schon vorgesetzt. Beim Lesen müssen sie alles aus sich selbst generieren. Sie bedienen sich ganz notwendiger Weise aus ihrem eigenen Speicher.
Deshalb ist Lesen auch anstrengend.
Ja, natürlich ist es anstrengend, wenn ich keine Bilder zur Verfügung habe. Gleichzeitig können wir dadurch aber tief in unsere eigene Identität abtauchen. Ein Junge sagte mir kürzlich, er bekomme beim Lesen immer Ärger mit seinen Eltern: Weil er sie nicht höre, wenn sie ihn rufen. Wir befinden uns beim Lesen buchstäblich in einer eigenen Welt. Es ist eine Welt, die aus uns selbst besteht.
Einer Studie des Börsenvereins zufolge haben wir für das Bücherlesen immer weniger Zeit. Schuld sei die Digitalisierung: Die Menschen haben immer mehr das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn sie einmal für längere Zeit nicht auf ihr Smartphone schauen.
Das leuchtet mir ein, weil wir seit 2013 sechs Millionen Leser verloren haben. Die müssen ja irgendwo herkommen. Ich glaube, dass vor allem der Streamingdienst Netflix für Romanleser eine große Versuchung darstellt.
Inwiefern?
Ein Roman kann auf 600 Seiten mit einem riesengroßen Personal eine ganze Welt entfalten. Im Film mit einer Länge von gerade mal zwei Stunden war das so bisher nicht möglich. Die Verfilmung von John Irvings Roman "Gottes Werk und Teufels Beitrag" etwa ist großartig – zeigt aber nur einen Bruchteil des Romans.
Bei Netflix sieht das jetzt anders aus.
Durch diese langen Serien können sie in aller Ruhe neue Charaktere einführen und eigene Handlungsstränge entwickeln. Dabei rede ich jetzt nicht von den gruselig schlechten Serien, die es ja auch gibt, sondern von den richtig gut gemachten: Sie bieten einem Romanleser das, was er bisher bei Filmen vermisst hat.
Sie bieten ihm aber nicht das Selbsttherapeutische.
Nein. Deshalb würde ich mir ja auch wünschen, dass die Menschen trotzdem lesen. Schauen Sie: Natürlich kann ich nicht in jeder Situation jedes beliebige Buch lesen. Wenn ein Roman etwas komplexer und auch sprachlich anspruchsvoll ist, brauche ich für ihn eine gewisse Muße. Das kann ich dann nicht mal so eben zwischen zwei Terminen weglesen. Für diese Gelegenheiten nehme ich lieber einen Krimi. Noch einfacher als ein Krimi aber ist Netflix. Und deshalb ist vollkommen klar, dass die einfachste Variante auch den größten Zulauf bekommt.

Welche Rolle spielt die Schule bei dieser Entwicklung?
Wir haben inzwischen zunehmend eine Generation von Lehrern, die aus eigenem Erleben Vor- und Nachteile der digitalen Medien einschätzen können. Wir müssen nicht alles verteufeln. Wichtig ist, dass wir die Funktionsweise verstehen. Zum Beispiel den Suchtfaktor von Snapchat, Facebook, Instagram: Wer das nie selbst ausprobiert hat, kann nicht wissen, was da im Kopf eines Menschen geschieht.
Haben die Schulen trotzdem etwas versäumt? Sie waren ja selbst einmal Lehrerin!
Was das Lesen betrifft, versäumen Schulen auf unterschiedlichsten Ebenen und in unterschiedlichsten Phasen sehr viel. Wir wissen aus einer internationalen Grundschulstudie, dass in Deutschland fast ein Fünftel der Unterzehnjährigen nicht lesen kann. Sie kennen zwar die Buchstaben und können sie auch zusammenziehen, wissen aber am Ende nicht, was im Text steht.
Woran liegt das?
Die Anstrengung ist einfach zu groß. Darin besteht auch das Missverständnis, wenn es heißt, diese Schüler seien doch alle alphabetisiert. Ja, stimmt auch: Aber lesen können sie trotzdem nicht!
Fast ein Fünftel ist ernüchternd.
Bei sechs Prozent aller untersuchten Schüler ist es noch gruseliger. Wenn sie diesen Kindern das Bild einer Maus vorlegen und daneben die Wörter "Haus", "Maus", "Mann" und "Laus" hinschreiben, dann sind sie schon überfordert. Welche Perspektive haben diese Kinder in einer weiterführenden Schule? Was bedeutet das für ihr Selbstbewusstsein? Und wie soll das später im Erwachsenenleben laufen?
Sie sind Initiatorin der sogenannten "Hamburger Erklärung", einem Aufruf zu mehr Investitionen in die Bildung, damit Kinder das Lesen lernen. Als Argumente führen Sie an, dass man lesen können muss, um einen qualifizierten Beruf ergreifen zu können...
...ach, ich weiß, worauf Sie hinauswollen.
Setzen Sie damit nicht am falschen Ende an? Der Philosoph Konrad Paul Liessmann zum Beispiel kritisiert, dass Lesen nur noch als bloße technische Kompetenz für den späteren Beruf vermittelt wird – statt den jungen Menschen das Erlebnis eines Shakespeare mit auf den Weg zu geben.
Shakespeare ist der zweite Schritt. Erst müssen Sie überhaupt in der Lage sein zu lesen, dann kann man auch über die geeignete Literatur reden. Ich bin doch seit Jahrzehnten mit Liessmanns Argumentation unterwegs gewesen: Es hat schlicht niemanden interessiert. Das einzige, was zählt, sind wirtschaftliche Argumente.
Und politische?
Natürlich. Die Folgen für die Demokratie sind gravierend. Es handelt sich um Menschen, die erstens Schwierigkeiten haben, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, sich zweitens sozial ausgegrenzt fühlen und drittens über viele Jahre Erfahrungen von empfundener Minderwertigkeit gesammelt haben. Ja, natürlich laufen die bei Pegida mit! Und wenn sie keinen deutschen Hintergrund haben, laufen sie eben woanders mit!
Das heißt, Liessmann hat im Prinzip Recht...
...wählt aber einen völlig naiven Ansatz, ja. Wir sollten uns besser an den Ländern orientieren, die vergleichbare Probleme haben wie wir. Großbritannien zum Beispiel: Dort ist es gelungen, die Lesefähigkeit der Kinder seit 2011 phänomenal zu steigern. Damals haben sie nämlich ein nationales Kurrikulum fürs Lesen aufgelegt. Darin steht ganz detailliert, wann was an reiner Lesetechnik erworben sein soll. Es heißt da aber auch: "Eine Kernaufgabe von Anfang an ist, die Liebe zur Literatur zu wecken." Was diese Kinder am Ende der Sekundarstufe I alles an englischer klassischer Literatur gelesen haben sollen, das würde bei uns niemals durchgehen!
Ist es völlig gleichgültig, was ein Kind liest?
Meine Kinder liebten Bücher, die ich so trostlos fand! Aber das ist egal, solange sie nur gerne lesen. Wir sollten mit Kritik vorsichtig sein. Ich selbst habe im Alter von zehn Jahren Karl May gelesen: Da hat das Blut aber nur so gespritzt! Hat es mich brutalisiert? Ich glaube nicht.
Zur Person
Kirsten Boie, 69, zählt zu Deutschlands erfolgreichsten Kinderbuchautorinnen. Nach ihrer Promotion über die frühe Prosa von Bertolt Brecht war sie als Lehrerin an einem Gymnasium tätig. Seit Mitte der 80er Jahre arbeitet sie als freie Kinder- und Jugendbuchautorin. Sie hat seither mehr als 100 Bücher veröffentlicht, darunter "Wir Kinder aus dem Möwenweg", "Der kleine Ritter Trenk" und "Verflixt ein Nix". (brg)