Der neue Roman liegt seit vier Monaten auf dem Nachttisch. Das Lesezeichen steckt auf Seite 14. Keine gute Bilanz für einen Gesamtumfang von 300 Seiten.

Reif fürs Antiquariat

Bevor der Roman auf dem Nachttisch lag, stand er im Bücherregal. Für ein halbes Jahr. Dort hingekommen ist er, als es galt, auch die letzten Geschenke von Weihnachten 2017 endlich mal aufzuräumen. Kurz: Der neue Roman ist gar kein neuer Roman. Sondern ein alter Hut, reif fürs Antiquariat. Täuscht es, oder kommen wir tatsächlich immer seltener dazu, ein Buch zu lesen?

Dramatischer Rückgang

Diese Frage interessiert auch den deutschen Buchhandel. Denn dort erkennt man eine beunruhigende Entwicklung: Die Buchkäufe gehen dramatisch zurück. Seit 2013 ist der Anteil der Kunden um sage und schreibe 6,4 Millionen Menschen gesunken – fast 18 Prozent.

Studie mit klarem Ergebnis

Um die Ursache zu finden, hat der Börsenverein als Dachverband bei der Gesellschaft für Konsumforschung eine Studie in Auftrag gegeben. Deren Ergebnis trägt einen Namen: Netflix.

Bildunterschrift
Bildunterschrift | Bild: Rolf Vennenbernd, dpa

Mag die Existenz dieser Videoplattform gerade einem älteren Publikum auch unbekannt sein, so ist sie doch dabei, unsere Kultur gravierend zu verändern. Der Studie zufolge verbringen junge Erwachsene nämlich inzwischen täglich 116 Minuten in Onlinediensten wie diesem. Tendenz: stark ansteigend.

Nun muss das eine mit dem anderen nicht zwingend etwas zu tun haben. Hat es aber – sagen jedenfalls die Autoren der Studie.

Sehnsucht nach Büchern

Tatsächlich offenbaren die befragten Konsumenten ein erstaunliches Missverhältnis. Denn trotz ihres ständig steigenden Videokonsums verspüren sie eine große Sehnsucht nach Büchern. Auch berichten die Studienteilnehmer von eigenen positiven Lektüreerfahrungen. Die Rede ist vom Lesen als „emotionales Erleben“, als „Erweiterung des Horizonts“ und „Eintauchen in andere Welten“. Allein: Sie kommen nicht mehr dazu.

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Das Lesen hat der Menschheit Wissen und Wohlstand beschert. Ohne den Buchdruck hätte es weder die Aufklärung gegeben noch die Industrialisierung. Und ohne Werke wie Shakespeares „Romeo und Julia“ weder Hollywood noch Internet-Streamingdienste wie Amazon und Netflix. Hört jetzt, wo Netflix da ist, der Mensch zu lesen auf?

Begleitprodukte zum Film

Die Zürcher Kulturwissenschaftlerin Ingrid Tomkowiak bezweifelt auf SÜDKURIER-Anfrage, dass der Video-Konsum mit dem Abnehmen der Leselust an sich einhergeht. „Netflix bedeutet ja keineswegs, dass die Menschen nur noch auf dem Sofa sitzen und Filme konsumieren. Vielmehr breitet sich damit auch eine transmediale Storytelling-Kultur aus, in der auch viel gelesen und geschrieben wird. Da gibt es Begleitprodukte wie das Buch zum Film oder Foren, in denen Rezipienten die Geschichten diskutieren oder selbst weiterschreiben.“

Entspannte Neuorientierung?

Das hört sich nach entspannter Neuorientierung an, nach der Freude an ganz neuen Kunstformen, die ihren Rezipienten zum Mitmachen einladen statt zur tatenlosen Berieselung. Ob aber das heutige Publikum wirklich so viel Spaß an transmedialen Kunstformen hat, scheint zweifelhaft.

Gescheitertes Projekt

Da sind erstens die Versuche von Verlagen, auf ebendiese Mitmachkultur zu reagieren: Bastei Lübbe unternahm erst vor zwei Jahren den Versuch, mit einer App namens Oolipo klassisches Erzählen und Multimedia zu verbinden. Das Projekt scheiterte krachend.

Studienteilnehmer fühlen sich überfordert

Da sind zweitens die Aussagen der Studienteilnehmer. Mit den Lektüreerfahrungen der neuen Storytelling-Kultur geben sie sich nicht zufrieden. Im Gegenteil: Von Überforderung ist die Rede, von einem Alltag, der sie nicht tun lässt, was sie eigentlich gerne tun würden. „Es ist eine paradoxe Ausgangslage“, sagt Alexander Skipis, Vorsteher des Börsenvereins, gegenüber dem SÜDKURIER: „Die Menschen möchten mehr lesen, lesen aber weniger.“

Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.
Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. | Bild: Hendrik Schmidt, dpa

Und drittens gibt es das Binge-Watching. Gemeint ist damit der Dauerkonsum von Serien über viele Stunden am Stück. Auch diese Beschäftigung nimmt zu, viel gelesen wird dabei allerdings nicht. Wie kommt es, dass Menschen Nächte durchglotzen, aber keine Zeit mehr finden, ein Buch in die Hand zu nehmen?

Fernsehen gilt nicht mehr als bildungsfern

Grund ist ein Wertewandel. Bücher, sagen die meisten, seien aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Man muss sich nicht mehr auskennen in der Gegenwartsliteratur, um auf öffentlichen Empfängen oder privaten Partys mitreden zu können. Immer wichtiger wird, sich in Serien wie „House of Cards“ oder „Game of Thrones“ zurechtzufinden. So ensteht ein sozialer Druck fort vom Buch, hin zum Film. „Serienschauen ist gesellschaftsfähiger geworden“, sagt Skipis: „Fernsehen wird nicht mehr als Zeichen von Kontrollverlust oder als bildungsfern gedeutet.“

Digitale Abhängigkeitsverhältnisse

Es ist eine Gesellschaft, die digitale Abhängigkeitsverhältnisse schafft. Andauerndes Kontrollieren von Maileingängen und Chatverläufen wird nicht nur toleriert, sondern sogar erwartet. Man kann während einer Serie bequem Nachrichten schreiben und Facebook-Posts absetzen: Während einer Buchlektüre ist das so leicht nicht möglich. „Die Menschen fühlen sich in der Multitasking-Gesellschaft überfordert und gestresst“, sagt Skipis. „Sie beschäftigen sich mit mehreren Medien gleichzeitig, schauen beispielsweise einen Film und beantworten dabei ihre Nachrichten auf dem Handy. Längere Texte und so auch Bücher, verlieren zunehmend gegen kürzere Textformate, die angereichert sind mit viel Bildcontent.“

Veränderte Lesekultur

Der Blogger Schlecky Silberstein schreibt in seinem Buch „Das Internet muss weg“ (Knaus Verlag) von einer veränderten Lesekultur. Vom Umgang mit Suchmaschinen geprägt, neige der Leser heute zum bloßen „Texte-Durchsuchen“. Was zählt, ist nicht die Sinnstruktur eines Textes, sondern eine möglichst hohe Dichte an emotionalisierenden Schlagworten.

Technologien einbeziehen

Was ist zu tun? Ingrid Tomkowiak sagt, Autoren sollten verstärkt andere Darstellungsformen und Technologien mit einbeziehen. Skipis mag dem nicht widerprechen. „Aber: 2017 sind mehr als 85 000 Bücher auf den deutschen Markt gekommen. Nicht jeder Autor kann auf transmediale Erzählformen setzen.“

Bücher in Fitnessclubs

Beim Börsenverein arbeitet man deshalb daran, das Buch besser zum Kunden zu bringen. Von Büchern an „unerwarteten Orten“ ist die Rede: zum Beispiel in Fitnessclubs. Ob das die Lösung ist? Die Zukunft wird es zeigen.