Könnte es einen besseren, einen würdigeren Ort geben, um das Werk der Konstanzer Künstlerin Ulrike Ottinger angemessen zu präsentieren als das Haus der Kulturen der Welt in Berlin? Sind es doch gerade die verschiedenen Kulturen der Welt, die das Schaffen der avantgardistischen Filmregisseurin, Kamerafrau, Fotografin, Drehbuchautorin und Malerin durchdringen. Schon 2011 zeigte das Berliner Haus mit „Floating Food“ eine spektakuläre raumgreifende und begehbare Collage, die sich mit den asiatischen Kulturen des Umgangs mit Lebensmitteln befasst.

Explosionsartige Erweiterung des Verständnisses

Nun kehrt das Berliner Haus zurück zu den prägenden Anfängen der Weltensammlerin Ulrike Ottinger, die 1962 im Alter von 20 Jahren ihre Heimatstadt am Bodensee verlässt, um in Paris ihren Wunsch zu verwirklichen, Künstlerin zu werden. Ihr Weg führt sie dort in die Buchhandlung Libraire Calligrammes, einem Treffpunkt von Intellektuellen und zurückkehrenden deutschen Emigranten.

Ausstellung „Paris Caligrammes“ von Ulrike Ottinger im Haus der Kulturen Berlin.
Ausstellung „Paris Caligrammes“ von Ulrike Ottinger im Haus der Kulturen Berlin. | Bild: Haus der Kulturen Berlin

Hier finden Lesungen und Diskussionen von einer inhaltlichen Tiefe statt, die sich Ottinger für den gegenwärtigen Diskurs zurückwünscht. Dieser nach dem Krieg von dem Literaten Fritz Picard gegründete Buchhandlung ist der erste Raum der Ausstellung gewidmet. Ein Ort, von dem Ulrike Ottinger sagt, hier habe bei ihr „die explosionsartige Erweiterung des Verständnisses der Welt“ stattgefunden.

Die Ausstellung zeigt, welche ungeheuren Eindrücke auf die junge Frau vom Bodensee eingestürmt sind – zu einer Zeit im Spannungsfeld von Kolonialismus und Rassismus, in der die Traumata des Indochina- und Algerienkriegs analysiert werden, wo zurückkehrende deutsche Emigranten einen Neuanfang suchen und der Vietnamkrieg erste Vorboten einer sich anbahnenden studentischen Revolte schickt. Ottinger hört Vorlesungen des Ethnologen Claude Levi Strauss und des Soziologen Pierre Bourdieu. Von ihm sind auch zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos in der Ausstellung zu sehen.

Ulrike Ottinger in Paris vor ihrem Werk „Allen Ginsberg“ aus dem Jahr 1965.
Ulrike Ottinger in Paris vor ihrem Werk „Allen Ginsberg“ aus dem Jahr 1965. | Bild: Ottinger

Es gelingt der Berliner Schau mit einem Mix aus historischer Dokumentation mit Fotos und Filmen aus Algerien einerseits und deren künstlerischer Verarbeitung durch Ottinger andererseits den Kern ihres Schaffens sichtbar und verständlich zu machen. Gerade das Ineinanderfließen von Dokument und Kunst, von Realität und surrealistischer Verfremdung in fast allen ihren Arbeiten wird hier erkennbar.

Aus Paris zurück nach Konstanz

Nun stellt sich die Frage, warum die Künstlerin 1968 Paris verlässt, um in ihre Heimatstadt Konstanz zurückzukehren, während die französische Hauptstadt sich anschickt, zur Hauptstadt des studentischen Protestes zu werden. Es ist die verbohrte, ideologielastige Haltung einer Gruppe, die beginnt, Kunst und Künstler als Diener des Establishments zu diffamieren, mit der Ulrike Ottinger nicht zurecht kommt. „Das hat mich damals in eine tiefe Lebenskrise gestürzt“. Deshalb kehrt sie dem aufgeheizten Kulturbetrieb der Metropole den Rücken, um sich in Konstanz vorwiegend der Kunstvermittlung zu widmen.

Weg von der Studentenbewegung

Sie gründet dort den „filmclub visuelle“, eröffnet die Galerie und Edition „galeriepress“ mit Café („Salzbüchsle“) und präsentiert dort namhafte Künstler wie Wolf Vostell und David Hockney. Bewusst will sie sich von den teilweise elitären Vorstellungen der Pariser Studentenbewegung absetzen und Kunst für alle erfahrbar machen für wenig Geld. Dafür eignet sich das Medium Film besonders. Mit der ebenfalls in Konstanz gebürtigen Schauspielerin Tabea Blumenschein realisiert sie 1972 ihren ersten Film „Laokoon und Söhne“, der in Berlin uraufgeführt wurde.

„Journee d‘un GI“. Der Siebdruck von 1967 ist ebenfalls in der Ausstellung zu sehen.
„Journee d‘un GI“. Der Siebdruck von 1967 ist ebenfalls in der Ausstellung zu sehen. | Bild: Ottinger/Städtische Galerie Lenbachhaus München

Schließlich siedelt Ulrike Ottinger nach Berlin über, wo sie bis heute lebt, sofern sie nicht gerade in fernen Ländern zu Dreharbeiten unterwegs ist, um sich von den Kulturen der Welt inspirieren zu lassen. Und so schließt sich der Kreis von Konstanz über Paris nach Berlin, wo Ottinger ihre eigene Filmproduktionsfirma betreibt und immer wieder, so wie jetzt, mit interessanten Ausstellungen im Haus der Kulturen zu sehen ist. Zur gegenwärtigen Ausstellung gibt es auch ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Filmen und Gesprächen. Außerdem erscheint im Verlag Hatje Cantz eine Publikation zu „Paris Calligrammes“ mit Beiträgen der Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann und Laurence A. Rickels.

Bis 13. Oktober: „Paris Calligrammes. Eine Erinnerungslandschaft von Ulrike Ottinger“. Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Mi-Mo 12-19 Uhr, So bis 22 Uhr. Eintritt 5 Euro, montags frei. Infos: www.hkw.de