Heute ist Travestie im kulturellen Mainstream angekommen. Doch auch im 20. Jahrhundert waren Männer in Frauenkleidern in bestimmten Kontexten durchaus schon bekannt, sei es der Karneval oder die Kunstszene, wie die Aufnahmen des Regisseurs und Fotografen Jerry Schatzberg belegen, der die Rolling Stones 1966 für ein Schallplatten-Cover in strenge Kostüme und pelzbesetzte Damenmäntel steckte.

Wehrmachtssoldaten im Röckchen

Aber Wehrmachtssoldaten in Frauenklamotten? Der Künstler und Sammler Martin Dammann zeigt in seinem 128-seitigen Bildband „Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht“, dass es das gab. Mit weißem Büstenhalter und kurzem plissierten Röckchen führen Soldaten zu Trommelschlägen Bauchtänze auf. Im Bikini-Look, jedoch in Schuhen und Stricksocken steckend, bewegen sie sich schlangenartig zu Gitarren- und Trompetenmusik. Eng umschlungen sitzen sie auf dem Schoß ihrer uniformierten Kameraden, im langen, schulterfreien Kleid singen sie inbrünstig auf einer improvisierten Bühne in unmittelbarer Nähe eines Panzers. Sie lassen sich leicht bekleidet im Bett liegend von einem sehnsuchtsvoll blickenden Seemann umarmen oder sie zeigen sich bieder im hochgeschlossenen Dirndl mit weißen Strümpfen.

Dammann, der als Maler, Autor, Foto- und Videokünstler arbeitet, 1965 in Friedrichshafen geboren wurde und heute in Berlin lebt, sammelt seit rund 20 Jahren Fotografien vom Krieg. Dabei hegt er eine Vorliebe für Amateurbilder. Sie faszinieren ihn. Im Vergleich zu Profiaufnahmen fehlt ihnen zwar meist die eindeutige Bildaussage, zudem sind sie häufig mit Fehlern behaftet, aber dennoch befördern die Bilder oft überraschende Eindrücke zu Tage.

Kontrast zur NS-Ideologie

Während seiner Auftragstätigkeit für das Londoner Archive of Modern Conflict hatte Dammann Gelegenheit, viele private Einzelbilder, Serien und Alben zu sichten. Dem 54-Jährigen sprangen dabei die kostümierten Wehrmachtssoldaten ins Auge – besonders deshalb, weil sie in scharfem Kontrast zur bekannten NS-Ideologie standen.

Dammann begann diesem Thema besondere Aufmerksamkeit zu schenken und stellt in „Soldier Studies“ die Amateurbilder nun erstmals in größerem Umfang zur Diskussion. Die Fotografien sind unterteilt nach der Ferne zur Heimat, Rekrutenzeit, Kompaniefest, Front und Kriegsgefangenenlager und werden ergänzt um einordnende Texte aus eigener Feder und der Sicht des renommierten Soziologen Harald Welzer, der an der Universität St. Gallen lehrt.

Aber wie passt das Cross-Dressing zu einem Heer, in dem Mannhaftigkeit und Sittenstrenge doch oberste Priorität hatten? Und wie passt es zu einem faschistischen Regime, das Homosexuelle verfolgte, einsperrte und tötete?

Als mögliche Gründe führt Dammann an, dass die Soldaten oft sehr lange von zu Hause weg waren und dass das Verkleiden zum Beispiel ihre Sehnsucht und Verlorenheit zu mildern vermochte, sie von der Kriegstristesse ablenken und sexuelle Bedürfnisse und fehlende Nähe stillen konnte – und zwar bei Weitem nicht nur für Homosexuelle oder Transvestiten, sondern auch für Heterosexuelle, die sich durch den Rollentausch ihren abwesenden Partner praktisch selbst herstellten.

Die Auftritte wurden geduldet

Die Obrigkeit – bis auf einige Vorgesetzte, so erfährt man – hat die Auftritte geduldet. Die wenigen Quellen sprechen mehr für eine Förderung denn eine Unterbindung. Denn letztlich war man mehr daran interessiert, die Soldaten zu entlasten und abzulenken, um ihre Kampfkraft zu erhalten, als die Parteiideologie einzuhalten.

Trotz des ernsten Kriegshintergrunds lassen einen die Fotos immer wieder schmunzeln und gewähren Einblick in zutiefst menschliche Regungen:

Rekrutenzeit

Die Rekruten sind noch halbe Kinder. Sie leben in geschlossenen Kasernen. Ihre Verkleidungen wirken wie arglose Spiele unerfahrener Pubertierender. „Der Krieg ist noch fern, das Vertraute beginnt jedoch schon zu weichen“, so Dammann zu ihren Ulk- und Klamaukszenen.

Kompaniefeste

Darbietungen auf militärischen Festen waren organisiert und aufwändig einstudiert. Sie fanden vor größerem Publikum statt, doch fernab der Front in Depots, Casinos oder Gefangenenlagern. Die Inhalte erinnern an karnevaleske Scherze – wie der Mann in Damenunterwäsche – oder handeln von Heimweh und Hoffnung à la „Lili Marleen“ wie das Pärchen vor der Laterne.

Front

Die Bilder von der Front sind das größte Kapitel des Buchs. Soldaten, die in verlassenen Dörfern stationiert waren, probierten offenbar die dortige Kleidung aus und veranstalteten in teils eleganter Robe bizarre Prozessionen durch die leeren Orte. Oft aber mangelte es an Verkleidungsmaterial und es musste improvisiert werden. Vielleicht haben gerade die simpelsten Verwandlungen die größte Wirkung. An der Front fand vieles in kleinem Kreis statt, jeder kannte jeden und das Publikum war mehr Beteiligter als Zuschauer der Aufführung.