Maria Schorpp

Achttausend – jeden Tag. Achttausend Mädchen werden jeden Tag auf der Erde beschnitten. Soll heißen, dass ihre Genitalien auf unvorstellbar grausame Weise verstümmelt werden. Kerry Jean singt mit ihrer kraftvollen Stimme dieses Anklage-Lied in der Schlussszene des Musicals „Wüstenblume“, das im Theater St. Gallen seine Uraufführung hat.

Ein denkbar starker Schluss, der für Waris Dirie, die Protagonistin des Musicals, in den 1990er-Jahren einen Neubeginn markierte. Mit dem Auftritt bei den Vereinten Nationen begann in gewisser Weise das dritte Leben der Nomadentochter, die auf einem steinigen Weg mit märchenhaftem Ausgang eine einzigartige Modelkarriere hinlegte. Mit ihrer Desert Flower Foundation ist sie bis heute Aktivistin gegen Genitalverstümmelung.

Künstlerisch erstklassig

Ein insgesamt starker Abend ist das im Theater St. Gallen, das mit dieser Uraufführung in vielerlei Hinsicht einen großen Coup landen kann: Künstlerisch ist „Wüstenblume“ erstklassig, emotional eine Wucht, interkulturell ein gelungener Spagat und für ein Musical thematisch so unorthodox wie letztlich einfach richtig. Die Geschichte von Waris Dirie passt in die Zeit, in der Frauen es sind, die erstarrte Verhältnisse aufzubrechen versuchen. Sie wird in der St. Galler Inszenierung auf klassische Musicalart umgesetzt: große Oper, große Gefühle und trotzdem mit großer Sensibilität für das Thema.

Naomi Simmonds (oben) spielt die junge Waris Dirie.
Naomi Simmonds (oben) spielt die junge Waris Dirie. | Bild: Andreas J. Etter

Neben Kerry Jean, die die erwachsene Waris Dirie spielt und singt, ist die gleichfalls wunderbare Naomi Simmonds das 13-jährige Mädchen, das aus dem Nomaden-Zuhause in der Wüste Somalias und von dort nach Mogadischu flieht. Im Tausch gegen Kamele sollte sie einen alten Mann heiraten. Da hat die Choreografie von Jonathan Huor schon gezeigt, was sie kann: Viel Bewegung, viel Kraft, viel Fantasie steckt in den Figuren.

Da werden Kamele, die eigentlich das Überleben garantieren, im Albtraum zu holpernden Monstern. Das Bühnenbild von Christopher Barreca erweitert den Bühnenraum nicht nur um den in die Publikumsreihen hineinreichenden Laufsteg, sondern vor allem um diesen zweiten Vorhang, der als Videoleinwand überraschende Perspektiven eröffnet.

Waris Dirie (Kerry Jean) wird in Europa als Model entdeckt. Die Inszenierug arbeitet hier mit Videoeinspielungen.
Waris Dirie (Kerry Jean) wird in Europa als Model entdeckt. Die Inszenierug arbeitet hier mit Videoeinspielungen. | Bild: Andreas J. Etter

Der Einstieg ist temporeich, wie die gesamte Show. Die Musik, der Tanz, das packt gleich von Anfang an. Nicht dass alles garantiert klischeefrei wäre, natürlich sind die afrikanischen Gewänder von Claudio Pohle viel zu schön. Die Taktzahl erhöht sich, im Nullkommanichts befindet man sich in London, wo das völlig weltunerfahrene Mädchen über Familienkontakte landet und ausgebeutet wird.

Wo die Geschichte etwas zu sehr nach dem Aschenputtel-Prinzip funktioniert, reißen es vor allem die Sängerinnen wieder heraus, die die teils eingängigen, teils auch kantigen Kompositionen von Uwe Fahrenkrog-Petersen nutzen, um Spannung aufzubauen. Insbesondere Dionne Wudu als Freundin von Waris, die mittlerweile allein gelassen in einem Londoner McDonalds putzt, setzt Akzente. Das von den beiden gesungene Duett „So wirst du Frau“ zeigt die Meisterschaft von Songtexter Frank Ramond. Und wie Waris endlich von ihrer eigenen Beschneidung erzählt, das geht nahe.

Die echte Waris Dirie ist auch da

Nicht überraschend heißt auch der Titelsong „Wüstenblume“, der schnell ins Ohr geht und das Potenzial einer Hymne hat. Überraschend indes ist, wie der versoffene O‘Sullivan, mit dem Waris inzwischen wegen der Aufenthaltsgenehmigung verheiratet wurde, zu einer Ballade ansetzt. Jogi Kaiser singt sie so von der inneren Qual herausgepresst wie einst Joe Cocker. Einfach Gänsehaut.

In St. Gallen sind Könner am Werk, auf und hinter der Bühne: Mit Uwe Fahrenkrog-Petersen hat einer der renommiertesten deutschen Musikmacher – einst für die Band von Nena, jetzt für die „Wüstenblume-Band“ – komponiert. Gil Mehmert, der für Buch und Regie zeichnet, kann auf Musicals wie „Das Wunder von Bern“ verweisen. Ein erfahrenes Team also, das mit dem Mix aus Rock, Pop und afrikanischen Rhythmen sowie einer sensiblen Figurenzeichnung überzeugt.

Als dann beim Schlussapplaus Waris Dirie leibhaftig auf die Bühne kam, war die Begeisterung des Publikums nicht mehr zu toppen. Sie blieb nicht lange, als ob sie nicht von dieser überragenden Truppe ablenken wollte, die in gewisser Weise auch für ihre Sache unterwegs ist. Vielleicht trägt sie tatsächlich ein bisschen dazu bei, dass sich erstarrte Verhältnisse aufbrechen lassen.

Nächste Aufführungen: 29. Februar, 3., 6., 7. März. Karten und Infos: http://www.theatersg.ch