Der Mann, der seinen Vater ermordet und anschließend mit der eigenen Mutter ins Bett geht – diese Figur aus der antiken Mythologie erfuhr durch Sigmund Freuds eigenwillige tiefenpsychologische Interpretation eine anhaltende Bekanntheit. 1910 taucht der Begriff „Ödipuskomplex“ erstmals in seinen Schriften auf, doch war er nicht der Erste, der der Faszination des antiken Stoffes erlag.
Im selben Jahr erlebte auch der 28-jährige rumänische Komponist George Enescu in Paris eine Theater-Aufführung von Sophokles‘ „König Oedipus“, die ihn derart beeindruckte, dass er beschloss, selbst eine große Oper daraus zu machen und den Dramatiker Edmond Fleg mit der Erstellung eines Librettos beauftragte. Es sollten 26 Jahre bis zur Uraufführung in Paris vergehen – dazwischen änderte sich die Welt rasant. Doch letztes Endes entstand ein großes, in jeder Hinsicht anspruchsvolles Werk.
Herausforderung gemeistert
Allein die Besetzung mit zahllosen Figuren, die um das Zentralgestirn des Ödipus kreisen, eine aufwendige Orchesterbesetzung und große Chöre dürften eine Produktion für viele kleinere Häuser verunmöglichen. Die Bregenzer Festspiele haben sich der Herausforderung jedoch gestellt: Intendantin Lilli Paasikivi hat sich für die Eröffnung ihres ersten Festspieljahrs für Enescus „Oedipe“ entschieden und so gleich ein Ausrufezeichen hinter ihren Start in Bregenz gesetzt.
Tatsächlich entpuppt sich die selten gespielte Oper als extrem dicht komponierter Vierakter. Der Orchestersatz ist so reichhaltig, dass der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus befand, es handle sich weniger um eine Oper als um eine Symphonie, die die szenische Handlung bloß zum Vorwand für ihre ausgedehnte Länge macht. Doch das wird der Dramatik, die die zentrale Ödipus-Handlung im zweiten und dritten Akt entwickelt, nicht gerecht.
Die Schicksalsfrage
Anders als die antiken Vorlagen packt Enescu die komplette Biografie der Ödipus-Figur von der Geburt bis zum Tod in diese eine Oper. Was ihn daran interessiert hat, dürfte weniger die Freudsche Theorie frühkindlicher Sexualität gewesen sein, als die Frage nach Schuld und Schicksal, die auch heute noch fasziniert: Ist das Schicksal unausweichlich oder hat der Mensch eine eigene Gestaltungskraft? Warum trifft es ausgerechnet Ödipus? Und ist er nun schuldig oder nicht an Vatermord und Inzest – schließlich wusste er nicht, wen er da in Gegenwehr erschlug und wessen Hand er zum Dank für seine Befreiung Thebens von der Sphinx erhielt.

Bald nach seiner Geburt wird Ödipus von seinen Eltern – dem König Laios (Michael Heim) und dessen Frau Jocaste (Marina Prudenskaja) – ausgesetzt, weil der blinde Seher Tirésias (Ante Jerkunica) ihnen weissagt, der Sohn würde den Vater ermorden und die Mutter heiraten. Ödipus (groß in dieser großen Partie: Paul Gay) überlebt allerdings und wächst als Adoptivkind des Korinther Königspaars Polybos und Mérope (Tone Kummervold) auf, im Glauben, dies seien seine leiblichen Eltern. Als das Orakel von Delphi ihm ebenfalls weissagt, er würde seinen Vater ermorden und die Mutter heiraten, verlässt er seine vermeintlichen Eltern, um genau dies zu vermeiden – was letzten Endes zum genauen Gegenteil führt.
Ödipus ist längst König von Theben, als eine Pest die Stadt erfasst. Auf der Suche nach Erlösung beginnt man, den noch ungeklärten Mordfall Laios aufzuarbeiten. Ödipus selbst treibt die Aufklärung voran – bis er schließlich erkennen muss, dass er selbst der Täter ist und dass sich die Weissagung des Orakels längst erfüllt hat. Jocaste nimmt sich daraufhin das Leben, Ödipus sticht sich die Augen aus und wird aus Theben vertrieben. Nur seine Tochter Antigone (Iris Candelaria) folgt ihm.

Hier könnte eigentlich Schluss sein, aber Enescu und seinem Librettisten war es offenbar wichtig, einen geläuterten Ödipus zu zeigen, der sein Schicksal als unverdient Leidender angenommen hat, so zu einer Art christlichem Märtyrer wird und nun mit reiner Seele in den Tod gehen kann. Gelegentlich wird Enescus Musik als postwagnerianisch beschrieben. Doch mag man sich gar nicht vorstellen, wie Richard Wagner die Verklärung des Ödipus komponiert hätte. Enescus Stoßrichtung ist zwar ähnlich, auch bei ihm wird es nun lichter, heller, weihevoller – und ja, stellenweise auch etwas langatmig. Aber seine Verklärung tendiert nirgends zu Kitsch und Überzuckerung.
Das unheimliche Lachen der Sphinx
Überhaupt entwickelt Enescu einen ganz eigenen Musikstil. Im ersten Akt, als die Geburt des Königssohns noch gefeiert wird, mag man sich noch an impressionistische Klangmagier wie Debussy erinnert fühlen. Später, als mit der Prophezeiung die tragische Handlung ihren Lauf nimmt, verliert auch die Musik ihren Unschuldscharakter, wird düster, dramatisch.
Eine zentrale Szene ist die der Sphinx, deren unheimliches Lachen, als Ödipus ihr Rätsel löst, einem die Schauer über den Rücken jagt. „Ich versuchte, das Erwachen der Sphinx im rauchig schwarzen Halbschatten ihrer Dunkelheit mit kühler, beklemmender Musik darzustellen“, schrieb Enescu dazu. „Ich musste ihren letzten Schrei erfinden... Als ich die Feder niederlegte, dachte ich, dass ich den Verstand verliere.“
In Bregenz schlüpft Anna Danik in diese kleine, aber beeindruckende Rolle der todbringenden Sphinx, die hier als Knochenfrau mit mächtigen Flügeln und nosferatulangen Fingern ein echter Hingucker ist (Kostüme: Tanja Hofmann). Ansonsten hält sich Regisseur Andreas Kriegenburg mit vordergründigen Effekten zurück. Sein Credo ist es, die Geschichte für sich selbst sprechen zu lassen und sie nicht „zu uns hinzutrivialisieren“ – ein kleiner Seitenhieb auf allzu engagierte Aktualisierungs-Versuche des Regietheaters.
Vier Akte – vier Farben
Szene und Kostüme bleiben also zeitlos, dennoch fasst Kriegenburg das Stück in eine eindringliche Dramaturgie. Den vier Akten ordnet er vier Elemente und Farben zu: In feurigem Rot wird die Geburt des Königssohns gefeiert; im Grau des undurchdringlichen Nebels macht sich Ödipus auf die Suche nach einem Weg, seinem Schicksal zu entgehen; grauschwarz wie Asche ist der Tod, den die Pest und die Erkenntnis der eigenen Schuld bringen; die warmbraunen Holz- und Erdtöne im Wald schließlich symbolisieren Frieden und den Kreislauf des Lebens (Bühne: Harald B. Thor, Licht: Andreas Grüter). So erhält jeder Akt ein eigenes Gesicht. Im Nebel, auch Schauplatz für den Vatermord, gelingen außerdem eindrückliche Effekte, ebenso in der Stille des schwarzen Tods zu Beginn des 3. Aktes.
Mit der finnischen Intendantin Paasikivi werden sich ab jetzt immer wieder auch finnische Namen im Festivalprogramm finden. Einen Anfang machte der Dirigent Hannu Lintu, der mit den Wiener Symphonikern Enescus anspruchsvolle Partitur in all ihrer Klangraffinesse und Tiefgründigkeit erlebbar machte. Ein Hoch auch auf den Prager Philharmonischen Chor (Leitung: Lukas Vasilek), der neben Ödipus so etwas wie die zweite Hauptrolle übernimmt. Bedauerlich bleibt einzig und allein, dass diese Produktion in Bregenz nur zwei weitere Aufführungen erlebt.
Weitere Termine: 20. Juli, 11 Uhr; 28. Juli, 19.30 Uhr.