Theater und Bildschirm: Können diese beiden Freunde werden? Sie haben es ja schon seit Jahrzehnten miteinander versucht, erst im Fernsehen, dann im Internet. Der Erfolg blieb stets aus. Das eine lebt vom Zauber der Unmittelbarkeit und dem gemeinschaftlichen Erleben, das andere von ästhetischer Perfektion und privatem Konsum. Wem es gelänge, diesen Widerspruch aufzulösen, der hätte in der Corona-Pandemie so etwas wie den Impfstoff fürs Theater gefunden. Denn dann wäre das Spielen auch im Lockdown möglich.
Nur zwei Tage, nachdem die Verlängerung der Maßnahmen zum Infektionsschutz verkündet wurden, geht im kleinen Überlinger „Noltes Theater“ der Vorhang wieder auf. Gezeigt wird „Ruhestörung“, ein Ende der 90er-Jahre entstandener Schauspielmonolog von Eugen Ruge. Oliver Nolte, Schauspieler und Inhaber der Bühne, spielt das Stück im Internet. „Ruhestörung+“ heißt das.
Wir Zuschauer sind über Zoom dabei: Das Programm wird vor allem im Geschäftsleben für Videokonferenzen genutzt. Es empfiehlt sich, schon eine halbe Stunde vorher da zu sein. Nicht nur, weil jeder Gast wie an der analogen Abendkasse persönlich empfangen und eingewiesen wird – vor allem wegen der authentischen Foyer-Atmosphäre.
Durch die Ansammlung von Bildschirmkästchen blickt man in diverse Wohnzimmer. Alte Bekannte begrüßen einander mit Weinglas in der Hand („Und was macht denn deine Frau, die Monika?“ – „Na, was wohl? Sie strickt!“), eine Besucherin ist aus ihrem Wohnmobil zugeschaltet („Barbara! Da sitzt doch tatsächlich eine im Wohnmobil auf Sizilien!“). Das Theater vor dem Theater ist allein den Eintritt wert.
Bei 30 Zuschauern ist Schluss
Um Punkt acht Uhr ist die Hütte mit 30 Personen voll. Das ließe sich im Internet locker verzehnfachen, dann aber wäre die familiäre Stimmung futsch. In einem Kästchen taucht jetzt Oliver Nolte auf. „Guten Abend“, sagt er: „Ich bin Ihr Schauspieler.“ Dann bittet er uns, die Kameras auszuschalten.
Zu sehen ist jetzt allein die Bühne und das vierfach: von links im Kästchen Nummer eins, von rechts im Kästchen Nummer zwei, von vorne und hinten. Alles da, auch der sichtlich erregte Herr mit blauer Krawatte und beigefarbenem Jackett. Heute früh um halb sieben, sagt er, habe man an seiner Tür geklingelt und sich über eine Ruhestörung beschwert. Weil er geschrien habe. So ein Unsinn! „Kein Mensch wird glauben, dass ich, der ich alleine lebe, hier in meiner Wohnung sitze und schreie!“
Dann dreht er den Spieß um. Wer hier nicht alles tatsächlich die Ruhe störe: Wenn der Deissel von nebenan seine Tochter verprügelt, ja, da beschwert sich niemand! Und was ist mit den Autofahrern frühmorgens um halb sieben?
Ruges Protagonist erweist sich als überraschend aktuell. Es ist das sich von allem gereizt und überfordert fühlende Individuum, vor lauter Empörung unfähig, die eigenen Fehler zu erkennen. Nolte bringt hinter dem Schutzschirm der Empörung ein von Furcht zerrüttetes Wesen zum Vorschein: Die Opferrolle dient ihm als Zufluchtsort.
Intensives Spiel mit der Kamera
Die Feinzeichnung gelingt über intensives Spiel mit den vier Kameras. Ganz nah geht der misstrauische Ruhestörer ran, als wolle er untersuchen, ob auf der anderen Seite nicht doch ein Geheimagent sitzt, der seine Aussagen aufzeichnet und an ein geheimes Weltgericht übermittelt. Die Kameras selbst sind statisch, es soll Theater bleiben.
Ist das nun der Impfstoff für die Bühne? Jedenfalls sind es unterhaltsame 90 Minuten mit Potenzial für mehr: eine neue Kunstform auch über die Pandemie hinaus. Wesentlich ist die Beschränkung auf wenige Zuschauer. Wenn Theater im großen Internet funktionieren soll, muss es sich klein machen. Der erste Versuch ist geglückt.
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