Wer sich mit Porträts von Alberto Giacometti beschäftigt, stößt unweigerlich auf den Fotografen Ernst Scheidegger. Über Jahre hinweg hat er den berühmten Schweizer mit der Kamera begleitet und dessen Bild geprägt. Weniger bekannt ist, dass Scheidegger in den Nachkriegsjahren viele weitere – heute namhafte – Künstler und Künstlerinnen porträtierte.

Anlässlich seines 100. Geburtstages gewährt das Kunsthaus einen aufschlussreichen Einblick in ein bisher unveröffentlicht gebliebenes Konvolut sehenswerter Fotografien. Die Schau ist angereichert mit Gemälden und Skulpturen von Hans Arp, Alberto Giacometti, Paul Lohse und Germaine Richier, allesamt Künstler, die Scheidegger in seinen Bildern würdigte.

Ein Porträt ist stets auch eine Art Spiel. Es tariert ein Kräfteverhältnis zwischen Fotografen und Fotografierten aus. Wenn es dem Kameraführenden gelingt, eine berühmte Person abzulichten, kann das sein Ansehen erhöhen. Umgekehrt gilt: Ein Star will von einem angesehenen Fotografen ins Licht gesetzt werden. Ein Filmschauspieler kann sein Ansehen steigern, beispielsweise durch ein Porträt von Helmut Newton.

Das Spiel hat noch eine andere Facette. Die Person vor der Kamera versucht das Ergebnis zu beeinflussen; das Bild soll zeigen, wie sie vom Betrachter gesehen werden möchte. Die Person am Auslöser möchte hingegen oft ein möglichst authentisches Bild erzeugen.

Der Fotograf

Im Idealfall agieren die Beteiligten als Partner, die sich gegenseitig anregen und befruchten. Der Fotograf Scheidegger hatte ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Künstlern gefunden; sein behutsamer Blick zeugt von Feingefühl. Es sind dichte, ausdrucksstarke Bilder, die die Protagonisten oft ernst, nachdenklich oder hochkonzentriert abbilden, so Max Bill mit einer Studentin in der Keramikwerkstatt.

Die Künstler sind eingebettet in ihre Arbeitsumgebung, teils sehen wir sie mit Pinsel und Palette vor der Leinwand wie Verena Loewensberg oder mit geübter Hand an der Plastik wie Joan Miró. Die Arbeitsorte reichen von aufgeräumten Wohnateliers bei Sophie Taeuber-Arps bis zu überbordenden Kreativschmieden bei Alberto Giacometti, alles zusammen ergibt zudem Einblicke in die Art der Kleidung, zu der die Krawatte noch häufig gehörte.

Ernst Scheidegger: Alberto Giacometti malt Isaku Yanaihara in seinem Pariser Atelier, 1959.
Ernst Scheidegger: Alberto Giacometti malt Isaku Yanaihara in seinem Pariser Atelier, 1959. | Bild: Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich Werk Alberto Giacometti: © Succession Alberto Giacometti / 2023 ProLitteris, Zurich*

Meist kennt man die Namen der Künstler und auch deren Werke, aber der Mensch dahinter ist häufig fremd. Scheidegger bringt ihn uns näher, und die atmosphärischen Porträts sind zugleich ein Schlüssel, um die Werke besser zu verstehen. Wenn man in der Ausstellung von Foto zu Foto schreitet, entsteht auch das Bild einer Künstlerszene, die sich noch als Dienstleister versteht, die gemeinsam daran arbeitet, den Bilderkosmos der Moderne weiterzuentwickeln. Ihre Werke stehen im Vordergrund, nicht die eigene Inszenierung, wie es in der Postmoderne häufig anzutreffen ist. In dem Bemühen um die Sache und dem Zurücktreten der Personen treffen sich Scheidegger und seine Protagonisten.

Zur Ausstellung hat der Verlag Scheidegger & Spiess eine gleichnamige Publikation herausgegeben. Dort wird Scheidegger dem Fotostil der Nachkriegsjahre zugeordnet. Es sei den Fotokünstlern nicht möglich gewesen, nahtlos an das Neue Sehen am Anfang des Jahrhunderts anzuknüpfen. Der Schrecken des Krieges hätte von formalen, experimentellen Sichtweisen zu einem emphatischen Blick auf das Leben geführt. „Die geduldige, genaue Beobachtung soll die Wahrheit, die in den Dingen des Alltags steckt, herausarbeiten“ und poetisch verdichten.

Scheidegger trifft den Moment: Richard Paul Lohse in seinem Atelier in Zürich, 1960.
Scheidegger trifft den Moment: Richard Paul Lohse in seinem Atelier in Zürich, 1960. | Bild: Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich Werk Richard Paul Lohse: © 2023, ProLitteris, Zurich

Der Begriff der „subjektiven Autorenfotografie“ allerdings hat unseren Blick auf die Situation in Deutschland nach 1945 gelenkt. Hier war die subjektive Fotografie von Otto Steinert tonangebend. Sie und ihr Vorläufer, die im Bodenseeraum bekannte Gruppe Fotoform, knüpfte ganz explizit an die Avantgarde der 1920er-Jahre an. Steinerts Subjektivität meint die Abkehr vom Abgebildeten hin zum Ausdruck eines inneren, subjektiven Kunstwillens. Man kann spekulieren, dass die Fotografen speziell in Deutschland mit der erdrückenden Kriegsschuld ästhetische Experimente einem genauen Blick auf den Menschen und seine Welt vorzogen. Die Verhältnisse in der Schweiz waren doch andere.

Foto von hinten: Hans Arp arbeitet an der Plastik „Der Wolkenhirt“, 1953.
Foto von hinten: Hans Arp arbeitet an der Plastik „Der Wolkenhirt“, 1953. | Bild: © Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich Werk Hans Arp: © 2023, ProLitteris, Zurich

Die Ausstellung widmet sich neben den Porträts auch Scheideggers frühesten Bildern, die in seiner journalistischen Zeit, unter anderem als Magnum-Fotograf, entstanden. Der detaillierte und liebevolle Blick auf Kinder in Süditalien, Zirkusartisten, demonstrierende Arbeiter oder das ländliche Leben ist auch diesen Aufnahmen bereits eigen. 2016 verstorben, gehört Scheidegger zu den angesehensten Schweizer Fotografen. Die 80 Aufnahmen im Kunsthaus kommen spät ans Licht, untermauern aber erneut das Renommee des Bildermachers.

Bis 21. Januar im Kunsthaus Zürich. Fr.-So. und Di. 10-18 Uhr, Mi. und Do. 10-20 Uhr. Weitere Informationen: www.kunsthaus.ch