Mit Stadtjubiläen ist es so eine Sache: Sie stützen sich meist auf eine alte Urkunde, die ein Klosterbruder mit Sätzen in einer überaus fremden Sprache vollgeschrieben hat. Auch die Stadt Überlingen handhabt es so, dort steht in diesem verrückten Jahr der seltene 1250. Geburtstag an. Iburinga, wie die Siedlung damals hieß, war eine Gründung aus der Zeit der Karolinger. Doch stimmt das Gründungsjahr 770? Neue Forschungen des St. Galler Stiftsarchivars legen nahe, dass nicht das Jahr 770, sondern 773 nach Christus in der Urkunde gemeint ist. Dann wär die Party erst 2023 fällig.

Bürger und Besucher feiern dennoch und jetzt. Im Städtischen Museum wurde mit Verspätung (wegen Corona) die Ausstellung „Überlingen legendär“ eröffnet. Die wissenschaftliche Diskussion über die korrekte Jahreszahl wird offengelegt und augenzwinkernd kommentiert. Noch mehr: Das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung. Das Jubiläum 2020 ist Fake, aber es schadet keinem und es spaltet nicht. Jubiläen entspringen nicht nur dem Zauber der runden Zahl, sondern dem Wunsch nach Vergewisserung.

Legenden verbinden
Die Exponate machen schnell deutlich: Das Mittelalter liebte Fake News geradezu. Allerdings nicht in der Trumpschen Art, die vom Beschimpfen und Ausradieren des Gegners lebt. Vielmehr geht es um höhere Ideale, die errichtet werden. Sagen wollen eine Herkunft erklären, die Legenden möchte etwas ins rechte Licht rücken und dem wechselhaften Glück auf die Sprünge helfen.
Die Glorreichen Sieben und der Hase
Eine der bekanntesten Sagen des Südens dreht sich um die Sieben Schwaben. Schauplatz ist der Bodensee, vor den Toren der damaligen Reichstadt. Die sieben Anti-Helden ziehen aus, um einen feuerspeienden Drachen zu bekämpfen. Doch mit dem Mut ist es bald aus, sie speisen erst einmal. In einem Busch entdecken sie schließlich das gefährliche Tier. Doch es entpuppt sich als Feldhase, der weghoppelt. Auf ihren „Sieg“ sind die Sieben stolz. Eine harmlose Prahlerei? Tatsächlich soll es bis heute Menschen geben, die gerne einen über den Durst erzählen und sich Leistungen anrechnen, die nicht die ihren sind.

Einer der glorreichen Sieben ist Überlingen, in der Sage heißt er der Seehas. Das weist darauf hin, dass Überlingen früher eine schwäbische Stadt war – und der Bodensee als Ort der Kampfhandlung das Schwäbische Meer hieß. Der damalige Schwäbische Kreis reichte von Ulm bis Freiburg. Das war lange vor der Gründung des Großherzogtums Baden.
Fake News des Mittelalters
„Das sind die Fake News des Mittelalters„, sagt Kurator Thomas Hirthe über solche elegante Erzählungen. Geschickt vermischen sie harte Fakten und Wünsche zu einem Ganzen.

Manche dieser Legenden wiederholen sich. Da ist zum Beispiel die wunderbare Rettung Überlingens im Dreißigjährigen Krieg. Die Muttergottes soll erschienen sein, was die protestantischen Schweden von der weiteren Belagerung der Stadt abhielt. Fiktion oder Fakt? In der aktuellen Ausstellung wird sogar der Fußabdruck Mariens gezeigt. Museumschef Peter Graubach kann dieses Wunder erklären: Seine Tochter habe ihre beiden Füße geliehen, um den Abdruck herzustellen.

Wer durch die Räume wandert und die 130 Exponate betrachte – von den Goldschmiedearbeiten des Münsterschatzes bis zu Fotos – sieht schnell: Ohne mythische Erzählungen kommt eine Gesellschaft nicht aus. Die Gründung Roms durch die Zwillinge Romulus und Remus gehört in diese Kategorie. Niemand käme auf die Idee, die beiden Jungen nebst Mutterwölfin aus dem Stadtwappen zu nehmen, nur weil die Geschichte nicht beweisbar ist.
Warum ist die Forelle blau?
Im besten Falle verweisen solche deftigen Storys auf einen höheren Zusammenhang. Da ist zum Beispiel der Witz „Forelle blau“ – bekannt sonst als Kochrezept. Der lokalen Legende nach heißen die Forellen deshalb so, weil früher der überschüssige Wein fässerweise in den Überlinger See gekippt wurde, was die Fische natürlich schnell betrunken machte. Sie waren also blau... Das ist ein durchsichtig gebauter Witz, der doch eine wichtige Tatsache erhellt: Die Region um die Reichstadt galt bis in die frühe Neuzeit hinein als größtes Anbaugebiet am Meer der Alemannen; die Weinstöcke reichten bis Hagnau. Der überschüssige Wein wurde häufig als Sauerampfer bezeichnet. Er wurde weggekippt, sobald der neue Jahrgang im Fass lagerte. Der Rebentrunk galt damals als gewöhnlicher Durstlöscher, denn Wein hatte noch nicht den edlen, kultigen Charakter wie heute.
Städtisches Museum Überlingen: „Überlingen legendär! 1250 Jahre sagenhafte Stadtgeschichte.“ Läuft bis 19. 12. 2020. Am Montag geschlossen, Eintritt 5 Euro / Ermäßigungen.