Ein Glas Karottensaft mit einem Schuss Apfelsaft. Dazu ein Teelöffel. Soll ja nicht zu schnell leer sein, das Glas, denn mehr gibt es nicht zum Frühstück. „Herrlich. Wir haben das jeden Morgen zelebriert.“ Der Überlinger Michael Röther meint das keineswegs ironisch. Er war neulich für eine Woche im Unterfränkischen auf Kur. Fastenkur.
„Ich mache dieses bewusste Verzichten seit Jahren, danach habe ich den Kopf so richtig frei“, sagt Röther, 56 Jahre alt. Dazu viele Spaziergänge, Wassergymnastik, Massage, mittägliche Bettruhe mit Kartoffelsäckchen auf der Leber („Da schläft man für zwei Stunden ein wie ein Baby“). Später Abendmediation und Brettspiele statt Glotze und Wein.
Sich selbst etwas Gutes tun, runterfahren, abschalten: Gesundheitsreisen liegen im Trend. Etwa jeder dritte Deutsche ab 14 Jahren kann sich diese Art des Urlaubs in den kommenden drei Jahren vorstellen. Das geht aus der aktuellen Reiseanalyse der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen hervor.
Dabei nimmt seit der Corona-Pandemie durch alle Altersgruppen hinweg vor allem der Wunsch nach einem Wellness-Aufenthalt zu. Das Interesse an einem klassischen Kuraufenthalt dagegen sinkt seit 17 Jahren. Sind Heilfasten, Moorbäder und Kneippen nicht mehr hip genug?
„Nein, das liegt eher am Geld“, sagt Arne Mellert, Geschäftsführer des Verbands Heilbäder und Kurorte Baden-Württemberg. Denn die Zeiten, in denen die Krankenkassen jedes Jahr die Kosten einer vierwöchigen Kur „zur Erhaltung der Arbeitskraft“ übernahmen, sind seit einer Gesundheitsreform Mitte der 1990er-Jahre vorbei.
Bis dahin fuhren noch mehr als eine Million Deutsche jedes Jahr auf Staatskosten (über 15 Milliarden Mark jährlich) auf Kur – und nannten es gern Badeurlaub. Ein paar Anwendungen, klar, dann aber Kaffee trinken, Kurkonzerte und manchmal auch ein Kurschatten. Wer sich das nehmen ließ, war selbst schuld.
„Ein Hoch auf unsere Krankenkasse“
Kuren, das war ein Grundrecht der Deutschen. In vielen anderen Ländern gibt es noch nicht einmal ein Wort für diese Form der Erholung. Werner Böhm hat für seine Kunstfigur Gottlieb Wendehals im Jahr 1980 sogar einen Kur-Hit geschrieben, „Morgens Fango, abends Tango, ein Hoch auf unsere Krankenkasse“.
Heute gibt es die Kur auf Rezept zwar immer noch. Doch die Krankenkassen übernehmen sie nur noch für maximal drei Wochen, nur alle vier Jahre (wenn der Antrag nicht abgelehnt wird) – und häufig auch nur in ambulanter Form. Die Kosten für Kost und Logis trägt der Kur-Urlauber dann selbst.
Das hat die Zahl der Krankenkassen-Kurgäste in Deutschland stark dezimiert – lediglich rund 17.000 ambulante Kuren wurden in den ersten drei Quartalen 2022 der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe zufolge abgerechnet. Drastisch gesunken ist dadurch auch die Zahl der Kureinrichtungen, die ausschließlich Kassenzahler beherbergt.

Dem einst mondänen Kur-Leben in den Kurorten hat das sichtbar zugesetzt. Beispiel Überlingen. Hier findet man in den Parks zwar noch etliche Kneipp-Becken. Aber das war‘s dann auch schon fast. Die zentrale Badeanstalt Kurmittelhaus wurde Mitte der 90er-Jahre abgerissen, dort steht heute ein Parkhaus. Kursaal und Bad-Hotel schmücken sich zwar noch mit den alten Namen, haben ansonsten mit dem Kurbetrieb aber nichts mehr am Hut.
Und dann das Kurviertel oberhalb der Bodensee-Therme. Einst gespickt mit Kurkliniken, ist es heute vor allem noch ein schönes, ruhiges Wohnviertel in bester Lage. Gehalten haben sich lediglich drei Kurbetriebe, die auch oder ausschließlich auf Privatzahler setzen: Buchinger-Wilhelmi, die Kurpark-Klinik und das Röther-Gesundheitszentrum. Dort hat diese Geschichte begonnen, beim Geschäftsführer Michael Röther, der in seinem Urlaub gern selbst zur Fastenkur fährt.
Gäste, für die Geld keine Rolle spielt
1949 haben seine Eltern Reinhard und Paula Röther den ältesten Kneippkurbetrieb in Überlingen gegründet – aus einem Lazarett heraus. „Damals hieß das noch Kneipp-Kurheim, mit so einem Namen würde man heute auch keine Gäste mehr locken“, erinnert sich Röther lachend. Schon gar keine Privatzahler.
Und auf die setzt das Röther-Gesundheitszentrum. Mit großen, hotelartigen Wohlfühlzimmern mit bester See-Sicht. Mit einer Therapie- und Bäderabteilung, die sich über das gesamte Untergeschoss erstreckt. Mit 40 Mitarbeitern, die sich um maximal 40 Gäste kümmern. Klingt exklusiv?
„Wir haben sicher Gäste, für die Geld keine Rolle spielt“, sagt Röther. Es gebe aber durchaus auch solche, die ihren Camper in Überlingen abstellen und dann nur zu den – von der Krankenkasse getragenen – Anwendungen kommen. Oder Menschen aus der Region, die zu Hause übernachten und sich die etwa 1000 Euro die Woche sparen, welche für Kost und Logis sonst anfallen.
Der Frauenanteil liegt bei 70 Prozent
Röther steckt sie alle in die gleichen weißen Bademäntel – zu 70 Prozent übrigens Frauen, „die achten einfach mehr auf ihre Gesundheit“. Als gelernter Kneipp-Bademeister erfreut er sich dann morgens in der Früh an ihrem Juchzen und Kreischen, wenn er mit dem kalten Wasser kommt.
Röther ist sehr stolz darauf, dass bereits seine Eltern im Jahr 1955 mit ihrem Gesundheitskonzept nach dem Wasserdoktor Sebastian Kneipp den Grundstein dafür legten, dass Überlingen als Kneippheilbad anerkannt wurde – und bis heute das einzige in Baden-Württemberg ist.

Ob das die jüngere Generation noch beeindruckt, die mit Wellness eher das warme Wasser der Bodensee-Therme verbindet als kalte Aufgüsse? Der zwar nachgesagt wird, auf die Work-Life-Balance und ihre Gesundheit großen Wert zu legen – die aber ihren Jahresurlaub gern im Ausland verbringt statt in einem deutschen Kurort? Die regelmäßig betont, wie wichtig das Abschalten sei – darunter aber nicht WLAN-freie Tage versteht, wie sie in manchen Kureinrichtungen zum Konzept gehören?
Arne Mellert vom Verband Heilbäder und Kurorte Baden-Württemberg glaubt nicht nur fest an eine Zukunft der Kur. Er hält sie sogar für unabdingbar dafür, dass Deutschland auch künftig genügend Arbeitskräfte hat. Seine These: Die Menschen werden in Zukunft länger arbeiten müssen. Schon heute halten aber viele nicht bis zum Ruhestand durch. Wie soll das also funktionieren, wenn man den Menschen nicht zwischendurch auch mal Pausen gönnt?
Für solche Pausen seien Kuren genau das Richtige: Die Menschen kämen in ein anderes Umfeld und seien gezwungen, sich Zeit für sich zu nehmen. Dazu braucht es seiner Meinung nach auch nicht zwingend die Krankenkassen als Kostenträger. „Jeder Arbeitgeber kann schon heute bis zu 550 Euro jährlich steuerfrei in die Gesundheitsvorsorge seiner Mitarbeiter stecken.“
Gäste sind heute gestresster als früher
Mellert beobachtet auch, dass es zunehmend Arbeitgeber gebe, die die Wichtigkeit solcher Angebote erkannt hätten. „Manche Unternehmen zahlen ihren Mitarbeitern Wellness-Wochenenden. Firmen wie Daimler oder SAP bieten Kooperationen mit Heilbädern an.“ Die Mettnau-Klinik in Radolfzell etwa ist für solche Angebote bekannt.
Und Michael Röther? Ihm fällt auf, dass viele Gäste gestresster und angespannter anreisen als vor der Corona-Pandemie, manche mit einer Grundaggressivität und rauem Tonfall. Dass der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise sie bis in den Schlaf hinein belasten, vermehrt Angstzustände auftreten. „Viele haben eine Auszeit bitter nötig und wollen Kraft sammeln für einen Alltag, der anstrengender geworden ist“, sagt er. Sein Haus ist für die gerade gestartete Saison gut gebucht.