Ich habe jetzt endlich auch mal die Mona Lisa gesehen. Glaube ich jedenfalls. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Der Louvre in Paris gilt als größtes Kunstmuseum der Welt, mehr als 380.000 Objekte gehören zu seiner Sammlung. Man braucht also nicht zwingend eine Mona Lisa, um sich darin die Zeit zu vertreiben.
Doch erst verlierst du in den zahllosen Treppenhäusern, Seitenflügeln und Zwischenetagen die Orientierung. Dann lächelt sie dich auch schon an: als Wegweiser. Wer seit einer Stunde durch assyrische Münzsammlungen irrt oder in einem Haufen mesopotamischer Schrifttafeln versinkt, der ist für dieses verheißungsvolle Lächeln durchaus dankbar.

Den Pfeilen folgen bedeutet allerdings, sich in reißende Fluten zu stürzen. Das Pärchen aus Amerika schiebt von hinten, die japanische Reisegruppe reißt dich mit, alles drängt und zwängt sich in größter Eile durch die Gänge.
Bis du am Eingang eines Saales über ein Meer von Hinterköpfen, Armen, Smartphones blickst. Über allem schwebt in eindrucksvoll majestätischer Anmut eine Wolke aus Myriaden von Coronaviren.
Schnappschuss auf gut Glück
Ein kurzer Versuch mit Atemschutzmaske: Dichter Nebel legt sich über die Brille. Das fehlte noch, einmal im Leben vor Mona Lisa stehen, aber blind wie ein Maulwurf. Also rein ins Virenbad, ungeschützt wie alle hier.
Überall Geschrei: „Ahí está ella!“, „Donde?“, „Go further!“, „Lasciatemi passare!“, „Help!“, „Je meurs!“ Der Strom driftet nach rechts, das Gefühl sagt, links müsste jetzt was Wichtiges zu sehen sein, schon schnellt der eigene Arm in die Höhe, ein Smartphone-Schnappschuss auf gut Glück.
Später der Check: War sie‘s wirklich? Hab‘ ich sie erwischt? Auf dem Foto: Arme, Arme, Smartphones, Smartphones. Aber da hinten, rechts neben der Selfie-Stange, halb verdeckt von einem Strohhut, hängt ein Bilderrahmen. Mit Gesicht in der Mitte. Könnte Mona Lisa sein. Oder Mickey Mouse.
Ich bin mir nicht sicher, ob der Philosoph Walter Benjamin richtig lag, als er die Kunst im Zeitalter der Reproduzierbarkeit um ihre Aura das Originals beraubt sah. Wenn eines Tages die Mona Lisa in jeder Studentenbude hängt, so war die Befürchtung, dann bräuchte niemand mehr nach Paris zu fahren.
Heute wissen wir, das Gegenteil ist richtig. Für ein paar Momente der Nähe riskieren Millionen aus aller Welt tagtäglich Leib und Leben. Sie müssen das Bild nicht einmal wirklich sehen, seine Anwesenheit zu spüren reicht völlig. Noch nie ist Kunst so sehr Religion gewesen.