Jochen ist glücksspielsüchtig. Jochen hängt an der Flasche. Jochen leidet an der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Der 43-Jährige war als Soldat im Krieg. Das Leid im Kosovo und in Bosnien verdrängt er am Automaten. „Während man in der Spielhalle sitzt, ist das wie ein Rausch. Ich bin aus meinem Alltag geflüchtet und habe dabei die Kontrolle über mein Leben verloren“, gesteht Jochen in der Selbsthilfegruppe für Spielsüchtige in Radolfzell. Zwischen drei und 14 Süchtige nehmen daran regelmäßig teil. An diesem Tag sind es sechs Männer. Vier erzählen von ihrem Schicksal. Alle wollen aus Scham unerkannt bleiben. Die Namen wurden von der Redaktion geändert.
Laut Forschungsgruppe Glücksspielsucht der Universität Hohenheim gibt es 200 000 krankhafte und 300 000 problematische Glücksspieler. 77 Prozent zocken an Automaten. Wie viele Münzen und Scheine Jochen in diese Automaten gesteckt hat, weiß er heute nicht mehr. „Ich lebte für die Dinger“, sagt er. Dass Jochen heute schon seit einem Jahr spielfrei ist, hat er einzig und allein seinem Körper zu verdanken. Der schaltete irgendwann ab, brach zusammen – Game over.
Endstation Psychiatrie
„Ich war psychisch und physisch völlig kaputt und habe gemerkt, dass das Leben schnell vorbei sein kann. Ich musste da raus – irgendwie.“ Die Konsequenz: stationäre Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Aus einem kurzen Aufenthalt wurden mehrere Wochen. Die haben sich gelohnt. Heute ist Jochen auf einem guten Weg für immer spielfrei zu bleiben.
Wer am Anfang gewinnt, ist gefährdet
Markus ist noch nicht so weit. Seine Sonnenbrille sitzt locker hinter den Ohren in den Nacken geklappt. Die kurz geschorenen Haare und der Drei-Tage-Bart lassen den kräftigen Mann sympathisch wirken. Während er in gebrochenem Deutsch davon berichtet, wie er in die blinkenden Fänge der Automaten geriet, wischt er seine schwitzigen Hände an der kurzen Hose ab – mehrmals. Er atmet schwer. Markus wirkt unsicher und sagt: „Am Anfang ist es die Suche nach dem großen Gewinn. Später aber nicht mehr.“
Wer vollständig in die Abhängigkeit rutscht, spielt nicht für Reichtum. Wer abhängig ist, spielt, um den Automaten füttern zu können. Weiterspielen, das ist das Einzige was zählt. „Irgendwann siehst du kein Geld mehr. Du drückst und drückst und drückst. Dein Zeitgefühl setzt aus. Du siehst nur noch Punkte. Je mehr Punkte, desto länger kann man zocken“, erzählt Andreas.
In 24 Stunden Monatslohn verzockt
Andreas ist etwa Mitte 30. Er spielt im Verein Fußball. Andreas ist ehrgeizig. Und dieser Ehrgeiz wurde ihm zum Verhängnis: „Ich hasse es zu verlieren. Ich will einfach immer gewinnen – auch am Automaten. Wenn ich da Geld verloren habe, musste ich so lange weiter spielen, bis ich den Automaten irgendwann überliste.“ Bei einem Gewinn war nicht Schluss. Andreas wollte mehr. Bis er wieder verliert. Ein Strudel, der Spieler unaufhaltsam in seinen Schlund hinabzieht. In Hochzeiten verzockte Andreas an einem Tag seinen gesamten Monatslohn. Zehn Stunden in Spielhallen waren normal.
Ein Leben bei den Reichen und Schönen
Bei Heinz war es die Pferderennbahn, die ihn nach dem ersten Gewinn in den Bann zog. „Ich kenne jede Bahn in Europa“, sagt er – von sich selbst erschüttert. Ein leeres Konto, hielt Heinz nicht davon ab, weiter auf das vermeintlich schnellste Ross zu setzen. Die Sucht zwang ihn in die Kriminalität. Er bestahl seinen Arbeitgeber. Der Betrug flog auf. Eine mehrjährige Haftstrafe drohte. Zuletzt blieb der Richter gnädig. Er verurteilte Heinz nur zu einer Bewährungsstrafe. Danach krempelte der etwa 70-Jährige sein Leben um. Eine stationäre Therapie folgte. Heute leitet Heinz die Selbsthilfegruppe in Radolfzell.
Versagt der Gesetzgeber?
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Branche sind im Glücksspielstaatsvertrag festgelegt. Wie diese Richtlinien umgesetzt werden, ist Ländersache. Grundsätzlich müssen Spielhallen-Betreiber auffällige Zocker ansprechen und wenn nötig Hausverbot erteilen. „Es gab noch keinen Einzigen, der hierher kam, weil ihn irgendjemand angesprochen hat“, berichtet Heinz. Ein schockierendes Ergebnis.
Wie kann das passieren? Die Selbsthilfegruppe ist sich einig: Spielhallen sind vom Gewinn getrieben. Wenn ein Mitarbeiter einen Spieler anspricht, mindert er vielleicht seinen Umsatz, weil Spieler in ein anderes Lokal wechseln, um ungestört zu zocken. „Das Personal hat kein Interesse daran, Süchtige zu sperren. Und das ist ein Fehler im System“, sagt Heinz.
Wer die Sucht beenden will, dem sind die Hände gebunden. Zwar sind in staatlichen Spielbanken Sperren für ganz Deutschland möglich – in privaten Spielhallen ist das nicht der Fall.