Als ich noch in München wohnte, war es die Überfahrt von Meersburg nach Konstanz, die mir das wohlige Gefühl von Heimat vermitteln sollte. Seit ich Berlin mein Zuhause nenne, kam es auf die Wahl des jeweiligen Verkehrsmittels an, wann und wo sich die vertraute Geborgenheit zuerst einstellen wollte: mit der Landung auf dem Zürcher Flughafen, beim Blick auf den See, wenn ich mit dem Zug durch Radolfzell fuhr oder wenn ich mit dem Auto auf der B33 unterwegs war und bei Allensbach zum ersten Mal bis zur Reichenau hinübersehen konnte.
Hier kann man tief durchatmen
Jedes Mal fühlte es sich an, als könne ich mit einem Mal tiefer durchatmen. Heute überkommt mich dieser Gefühlsschwall nicht mehr. Dabei liebe ich die Bodenseeregion mehr als je zuvor. Ich bin dankbar an diesem friedvollen Stückchen Erde aufgewachsen zu sein.
Doch Heimat ist für mich heute da, wo ich bin. Mir selbst die beste Heimat bin ich, wenn es mir gelingt, bewusst im Hier und Jetzt zu sein. Ohne dass ich von irgendwoher irgendwohin muss. Ich behaupte, je bewusster ich mir meiner Selbst bin, desto mehr lässt die Sehnsucht nach dem nach, was allgemein versucht wird, mit dem Wort Heimat zu umreißen. Auf einen Nenner gebracht, konnte ich auch provokant sagen: Viel Selbstbewusstsein – wenig Heimat. Wenig Selbstbewusstsein – viel Heimat. Gar kein Selbstbewusstsein – Heimattümelei.
Wie dem auch sei – wir werden uns nicht auf einen Heimatbegriff verständigen können. Nimm das kleinste Dorf: eine Kirche, ein Gasthof und nichts als Wiese drumherum. Lass alle zehn Dorfbewohner ihre Heimat beschreiben, man bekäme voraussichtlich elf verschiedene Aussagen. Auch das, was wir unsere Kultur nennen, separiert uns in der Diskussion mehr voneinander, als dass sie uns zu einem gemeinsamen Heimatgefühl fuhrt.
Wissenschaftlich gesehen, ist Heimat nichts anderes als eine Zusammenfassung von Spuren, die die Erfahrung in unserem Gehirn hinterlässt. Wenn sich die neuronale Struktur auflöst, zum Beispiel durch eine Demenz, verschwindet auch das Heimatgefühl. Heimat ist somit nichts als ein Gedanke. Und aus dem Gedanke wird ein Gefühl und das Gefühl lässt uns handeln, in der wir in die Heimat reisen, zurückziehen oder sie gar nicht erst verlassen.
Mein Vater hat sein Leben lang in Konstanz gewohnt. Nächstes Jahr wird er 80. Ein Konstanzer durch und durch. Er weiß, wo er beerdigt werden wird und hat sein Grab schon im Voraus bezahlt. Früher habe ich meine Eltern dafür belächelt, dass sie nicht nach der großen, weiten Welt strebten. Ich wollte es anders machen, raus aus der Heimat, rein ins Getümmel. Im Schnitt verbringe ich 150 Nachte im Jahr in Hotels.
Hinaus in die weite Welt
Ich führe das Leben, dass ich mir immer gewünscht habe, obwohl es unstet, anstrengend und manchmal auch etwas einsam unter vielen ist. Bin ich jedoch zu lange Zuhause, werde ich unruhig. Dann zieht es mich fort, dann lechze ich immer noch nach dem Bedeutenden, der Abwechslung und dem Unkontrollierbaren. Lange Zeit bedruckte mich dabei eine latente Unzufriedenheit. Die Unruhe war mein Wegbereiter, wobei ich mir die meisten Hindernisse selbst aufstellte.
Aus meiner Perspektive gesehen, waren meine Eltern im Vergleich stets mehr oder weniger ausgeglichen und haben sich erst um Probleme gekümmert, wenn sie auch tatsachlich da waren. Ich wurde behaupten, meine Eltern standen sich selbst sehr nahe. Manche müssen eben größere Kreise ziehen, um müde aber etwas ruhiger wieder da anzukommen, wo sie gestartet sind. Und wenn das ein Ort ist, dann hilft der vielleicht erstmal, die Reise zu sich selbst abzuschließen. Ware es in meinem Fall auch einfacher gegangen? Wahrscheinlich nicht. Denn Heimat und damit meine ich in erster Linie sich selbst, muss man auch erst mal aushalten konnen.