Frau Professor Nagoski, was sind die Hauptprobleme, die Frauen daran hindern, guten Sex zu haben?
Ich würde sagen, es gibt zwei davon. Der erste ist, dass viele meinen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, weil sie nicht funktionieren, wie sie sollten. Die Frauen meinen, sie müssten spontan und häufiges sexuelles Verlangen entwickeln, leicht erregbar sein und beim Geschlechtsverkehr zum Orgasmus kommen. All diese Dinge geschehen manchmal, aber für das Verlangen ist es typischer, dass es als Antwort auf angenehme Empfindungen auftaucht (eher als in der Vorfreude darauf). Erregung wächst meist eher langsam und der Orgasmus kommt durch die direkte klitorale Stimulation, mit oder ohne Stimulation der Scheide. Außerdem sind Frauen verschieden. Sie unterscheiden sich voneinander – und sie verändern sich innerhalb ihres Lebens. Viele Frauen erleben Veränderungen in ihrer Sexualität, wenn sie altern und sie denken: „Oh, früher war mit mir alles in Ordnung, aber jetzt funktioniere ich nicht mehr.“ Nein, sie sind einfach anders. Sexualität verändert sich. Sie ist nicht besser oder schlechter, sie ist das, was jetzt ist. Wenn Frauen ihre Sexualität als richtig oder falsch beurteilen, ist das einer ihrer häufigsten Abturner. Der zweite ist die Kritik am eigenen Körper, an seiner Form und Größe. Wenn eine Frau ihren Körper akzeptiert und lernt, darin mit Vertrauen und Freude zu leben, wird das ihr Sexualleben verändern. In Kurzfom: Stellen Sie Ihre Gesundheit in den Mittelpunkt, anstatt wie auch immer gesellschaftlich konstruierte Schönheitsideale zu akzeptieren, an die Frauen sich anpassen sollen.
In Ihrem Buch benutzen Sie in Bezug auf sexuelles Verlangen die Metapher eines Gaspedals und einer Bremse, die bei Männern und Frauen oft unterschiedlich eingestellt sind. An dieser Hardware kann man ja nicht viel drehen, oder?
Es ist nicht nur eine Metapher – es gibt einen neurologischen Mechanismus im Gehirn, der sexuelle Antworten reguliert. Der beschleunigt das Ganze in Antwort auf anregende Dinge und tritt auf die Bremse, wenn Dinge wie Sorgen, mangelnde Sicherheit, Beziehungsprobleme und – natürlich – selbstkritische Gedanken über den eigenen Körper und die eigene Sexualität auftreten. Man kann sehr wohl die Dinge verändern, auf die der Mechanismus antwortet; und man kann die Umwelt verändern, um die Dinge zu verhindern, die auf die Bremse treten. Jede Frau kann herausfinden, was ihr Gaspedal und was ihre Bremse aktiviert. Die Forschung deutet darauf hin, dass man, wenn man die Dinge reduziert, die die Bremse aktivieren, mehr für das sexuelle Wohl der Frauen erreicht als mit allen Pornos und allen hübschen Dessous dieser Welt.
Viele Frauen beklagen nach einer Schwangerschaft oder nach einer schweren Krankheit wie Krebs, dass ihr Verlangen auf Sex weniger wird oder ganz verschwindet. Was können Sie diesen Frauen raten?
Nach einer großen Veränderung in ihrem Körper müssen Frauen ganz von Anfang an neu lernen, wie sie in diesem neuen und veränderten Körper leben. Beginnen Sie einfach damit, wie sich Wahrnehmungen in Ihrem Körper anfühlen, so wie er jetzt ist. Beurteilen Sie nicht die Wahrnehmung oder Ihren Körper als richtig oder falsch. Lassen Sie sich Zeit. Geben Sie sich die Erlaubnis, dass alles anders sein kann, und konzentrieren Sie sich darauf, was jetzt stimmt und wahr ist, anstatt darauf, was früher einmal richtig war oder in Zukunft richtig sein könnte.
Sie erwähnen den Bestseller Shades of Grey. Schildert er ein realistisches Bild von sadomasochistischem Sex? Und warum lesen so viele Frauen das Buch und finden es offenkundig erregend?
Ich würde eher sagen, dass es auch einige Männer gibt, die es erregt und viele Frauen, die es nicht erregt – Menschen sind verschieden! Aber nein, natürlich ist es kein realistisches Bild von Sado-Maso-Sex oder den anderen Praktiken. Die Machtspiele und die Wahrnehmungsspiele sind es nicht, die das Buch erfolgreich gemacht haben. Frauen wollen begehrt werden – leidenschaftlich, verzweifelt beinahe, von dem Mann, den wir wollen, und sonst soll er keine wollen. Der Held von 50 Shades of Grey begehrt die Heldin entschieden und leidenschaftlich und sogar gegen sein eigenes Urteil. Es ist nicht sehr sexy, wenn unser Partner einfach Sex will, und wir sind die einzigen, mit denen er Sex haben darf. Es ist sexy, wenn er seine Augen nicht von uns abwenden kann und nicht damit aufhören kann, über uns zu fantasieren und es nicht abwarten kann, bis er uns berühren darf. Männer wünschen sich das von ihren Partner(innen) übrigens ebenfalls. Natürlich funktioniert Sex den größten Teil des Lebens nicht auf diese Weise. Den Großteil der Zeit sind wir beschäftigt mit Arbeit, Kindern, Haushalt und dem Leben selber, und wenn wir uns umschauen, ist da unser Partner, der uns hilft (oder auch nicht), und am Ende des Tages liegen beide im Bett. Ich mag romantische Romane, weil sie daran erinnern, dass Liebe und Vergnügen wichtig sind. Ich bin kein Fan von 50 Shades of Grey, weil es eine Geschichte über eine missbräuchliche Beziehung ist. Damit meine ich nicht, dass der Sex missbräuchlich war, aber seine Art, ihr nachzustellen, war missbräuchlich. Ich hatte im wirklichen Leben einen Stalker, der an Stellen auftauchte, wo ich ihn gebeten hatte wegzubleiben, und daran ist nichts auch nur entfernt sexy oder romantisch.
Viele Paare beklagen sich, dass ihr sexuelles Verlangen abnimmt, je länger sie sich kennen. Auch sich zum Sex zu verabreden klappt nicht immer. Was sind Ihre besten Ratschläge dazu?
Die Forschung zeigt, dass Paare eine starke sexuelle Beziehung über Jahrzehnte haben können, wenn ihrer Beziehung eine starke Freundschaft zugrunde liegt, und sie sich einig sind, dem Sex Priorität einzuräumen. Du kannst entscheiden, dass du, auch wenn du hundert andere Dinge tun könntest, Sex dir wichtig genug ist, dass du jede Woche eine Stunde oder 15 Minuten oder wie viel die Beziehung eben braucht, damit verbringst. Dabei geht es nur um die erfreulichen Gefühle des Körpers im Bett (oder wo auch immer) und die des Partners. Der Schlüssel ist, dass das Vergnügen zuerst kommt. Man erlaubt dem Verlangen, dass es in Antwort zum Vergnügen entstehen darf. Das klappt eher als auf das Verlangen zu warten, bevor man beginnt. Geht zusammen ins Bett und schafft einen Kontext, in dem ihr es schafft, eure Empfindungen und einander zu feiern.
In den USA steht die Frauen-Lustpille „Pink Viagra„ vor der Zulassung. Was halten Sie davon? Sie sind der Ansicht, dass Lust bei Frauen vor allem im Kopf entsteht, nicht wahr?
Der Wirkstoff Flibanserin hat in Versuchen gegenüber einem Placebo die Sexhäufigkeit um ein sexuell befriedigendes Ereignis pro Monat angehoben. Die Analyse der FDA (Genehmigungsbehörde in den USA, d. Red) der Daten des Herstellers hat aber enthüllt, dass der Wirkstoff nur bei zehn Prozent der Frauen wirkte, die an den Versuchen teilnahmen. Kurz gefasst: Für die riesige, überwältigende Mehrheit der Frauen funktioniert „Pink Viagra„ nicht. Was einem weitaus größeren Teil der Frauen hilft, ist Aufklärung darüber, wie Sex wirklich funktioniert. Dazu gehört etwa der Gaspedal-und-Bremsen-Mechanismus, das Wissen, dass Verlangen oft erst als Antwort auf Vergnügen entsteht, und das Fokussieren auf das empfundene Vergnügen anstatt auf das Verlangen oder den Orgasmus – und das Wissen, dass man Sex in seiner Beziehung Priorität einräumen sollte, wenn man ihn sich wünscht.