Als er neun Jahre alt war, machte es zum ersten Mal Klick. Die Patentante schenkte Sebastian Wehrle die erste Kamera. Der Junge probierte aus, schoss erste Bilder, klebte sie in ein Album.

Kameras begleiten ihn seitdem durchs Leben. Inzwischen hat er zehn Stück, die er aktiv nützt, die musealen Teile einmal nicht gerechnet. Aus dem Geschenk der Gotti wurde eine Leidenschaft und ein Beruf, von dem er gut leben kann.

Wehrle ist heutzutage Lichtbildner. Lichtbildner, nicht Fotograf. Wehrles Arbeit hat mehr mit Regie, Dramaturgie und Maske zu tun als mit dem Knipsen dessen, was ihm zufällig vor die Linse kommt. Er arrangiert und lässt seine Modelle schminken. Wie ein Maler arbeitet er in seinem Atelier, der mit Hingabe an der Beleuchtung arbeitet, bis er das Modell im rechten Licht sieht.

„Ich bin Perfektionist,“ sagt er im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Und in der Tat: Seine Konterfeis junger Menschen haben etwas Altmeisterliches.

Der Mann hat seinen Stil gefunden

Besuch im Atelier des 35-Jährigen. In der Gemeinde Freiamt (Kreis Emmendingen) hat er eine ehemalige Arztpraxis angemietet. Hier wohnt er mit seiner Frau und hier verkauft er seine Bilder zu Preisen, von denen mancher Fotograf träumt. Wehrle führt durch die Räume, in denen die Bilder dicht an dicht hängen. Hochauflösende Drucke auf Leinwand, in schmale Holzleisten gerahmt. 600 Euro für ein Foto von 60 mal 90 Zentimeter.

In der kleinen Werkstatt rahmen er und seine Mitarbeiter die Fotodrucke.
In der kleinen Werkstatt rahmen er und seine Mitarbeiter die Fotodrucke. | Bild: Uli Fricker

Wehrle kann das verlangen. Er hat etwas gefunden, wonach andere suchen – einen eigenen frechen Stil, um eine Tracht in Szene zu setzen. In Souvenirläden und Hotels werden seine Postkarten inzwischen verkauft. Seine Frauenporträts hängen im Flur großer Firmen, in Wirtshäusern fixieren einen die abgründigen Blicke der Damen und Herren in Tracht. Man leistet sich seinen Wehrle.

Übernächtigt, schön , rätselhaft

Seinen Stil erkennt man schnell. Eigentlich ein einfacher Kniff: Er hat sich vom braven Mädchen in der Schwarzwälder Tracht verabschiedet. Seine Frauen sind extrem geschminkt, oft überschminkt.

Manche sehen aus, also ob sie morgens um drei Uhr aus einem Taxi steigen. Schön, rätselhaft, melancholisch, manche auch für eine Sekunde böse. Stets ernst, nie um Beifall buhlend. Dass Frauen in Tracht automatisch lächeln müssen, findet Wehrle nicht. „Diese Mädchen könnten auch auf den Laufsteg gehen“, sagt er.

Vor sechs Jahren fing er an, Trachtenmenschen ins Gegenlicht zu stellen. Sie sollten nicht mehr brav und bieder sein, so wie sich viele Touristen eben die stets zupackende und permanent fröhliche Schwarzwälderin vorstellen. Dieses Postkarten-Image hat Wehrle begraben. Ein Klischee von gestern, schon zu Zeiten von Heinrich Hansjakob nicht wahr.

Das Gesicht muss vor allem interessant sein

Das Foto beginnt vor dem Foto. Er sucht Frauen (und Männer), die er in ausgesuchte traditionelle Gewänder packt. Meist entdeckt er ein Gesicht in den Sozialen Medien. Er schreibt die Person an und lädt sie ein. Deren Gesicht muss interessant sein. Oft tragen die Modelle Tattoos oder Piercings. Inzwischen ist die Auswahl der Porträtierten zum Selbstläufer geworden. Die Kandidaten melden sich selbst.

Silvia 1: Das Modell Silvia Haberstroh, hier im natürlichen Porträt.
Silvia 1: Das Modell Silvia Haberstroh, hier im natürlichen Porträt. | Bild: Sebastian Wehrle
Silvia 2 – mit Bollenhut und noch züchtig.
Silvia 2 – mit Bollenhut und noch züchtig. | Bild: Sebastian Wehrle
Silvia 3 – schwarze Witwe mit Gesangbuch und einer schwarzen Träne auf der Wange.
Silvia 3 – schwarze Witwe mit Gesangbuch und einer schwarzen Träne auf der Wange. | Bild: Sebastian Wehrle

Im Studio werden die Fotomodelle sorgfältig geschminkt. Manche wirken dann rätselhaft, andere verrucht. Die Bilder wirken zeremoniell, es bleibt nichts dem Zufall überlassen. „Ich fotografiere alle frontal, das ist mein Dogma“, sagt Wehrle. Das macht die Situation fast zu einem Ritus. Die Tracht fixiert das Gegenüber. Das macht den Reiz der Bilder aus. Man entkommt ihnen nicht. Der dunkelblaue Hintergrund erhöht den Effekt: Er schafft Tiefe.

Er weiß: „Die Bilder polarisieren“

Kritiker reagierten anfangs schockiert auf diese Fotos. Sie würden den Schwarzwald und seine historischen Kleider lächerlich machen, hieß es. Trachtenvereine fühlten sich nicht mehr ernst genommen und beschwerten sich. Das lässt Sebastian Wehrle nicht auf sich sitzen.

Selbstporträt: Das alte Motiv des Uhrenträgers nimmt Sebastian Wehrle auf und biegt es zum Träger vieler Fotokameras um
Selbstporträt: Das alte Motiv des Uhrenträgers nimmt Sebastian Wehrle auf und biegt es zum Träger vieler Fotokameras um | Bild: Sebastian Wehrle

Er stammt aus Simonswäldertal im Kreis Emmendingen, wuchs auf Höfen und zwischen Tieren auf. Den alten Hauben, dem Schappel oder einem samtenen Wams zollt er allergrößten Respekt. Es ging ihm nie um Karikatur, sondern um eine Übersetzung: Er holt die Trachten in die heutige Zeit und steckt junge Frauen mit markanten Merkmalen hinein. „In suche die Spannung in einem Bild“, erklärt er im Gespräch.

Inzwischen wird er von Trachtenvereinen eingeladen. Zum Vortrag. Auf der Insel Mainau fertigte er ein Gruppenbild mit 2000 Hauben-, Schnotz- und Hutträgern an. in der Szene hat er einen Namen, einen guten Namen.

Mann mit Fuchsfellmütze, Hochschwarzwald und Baar.
Mann mit Fuchsfellmütze, Hochschwarzwald und Baar. | Bild: Sebastian Wehrle

Er hat neuen Schwung gebracht, sagt selbstbewusst: „Ich hauche den Trachten neues Leben ein.“ Nicht überall werden sie wirklich getragen, sondern hängen leblos im Kleiderschrank. Wehrle zieht sie raus und bringt ihre Schönheit ans Tageslicht.

Wie fotografiert man Rinder?

Nach den Menschen rückt er auch Viecher in den Fokus. In langen Sitzungen porträtiert er seit einiger Zeit Rinder. Es sind ausnehmend schöne Tiere, gestriegelt und geputzt. Alle tragen einen frischen Blumenkranz um Kopf und Hörner, den die Floristin Stefanie Schneider gebunden hat.

Auch die Kühe schauen den Betrachter direkt an, mit großen traurigen Augen schauen sie aus dem Holzrahmen. Auch mit dieser Idee trifft Wehrle den Zeitgeist: Wer wird das Fleisch eines solchen Tieres schon essen wollen?

Auch wenn er schon immer der gerne auf den Auslöser gedrückt hat: Er kam auf Umwegen zu seinem eigenen Studio. Denn Wehrle ist gelernter Ofensetzer. Das Handwerk übte er immer gerne aus. „Im Schwarzwald und Elsass gibt es immer genug Aufträge“, schmunzelt er. Dennoch war der Drang zum Fotografieren stärker.

Villinger Radhaube, getragen von der Schweizerin Melina Hofstetter. Ihre Vorfahren stammen aus Kuba.
Villinger Radhaube, getragen von der Schweizerin Melina Hofstetter. Ihre Vorfahren stammen aus Kuba. | Bild: Sebastian Wehrle

Eine Fotoexpedition nach Südamerika gab den Ausschlag. Er stellte sein Leben auf den Kopf und und fand die ersten Modelle für seine Sitzungen. „Man muss den richtigen Moment erwischen, das ist entscheidend“, sagt er.

Er sucht einen alten Bauernhof für die vielen Fotos

Beim Gespräch im Wohnzimmer-Atelier ist er hochkonzentriert. Der Lichtbildner sieht wie ein verspäteter Student aus. Oder wie ein Surf-Lehrer, mit langem blonden Haar und hellen Augen.

Seine Gedanken kreisen um neue und alte Projekte. Er will ein Fotobuch machen, noch ein zweites über Südtirol, das es ihm gleichfalls angetan hat. Diesmal Landschaft statt Porträt. Und er möchte einen Bauernhof kaufen, damit er die Fotos noch flächiger hängen und vorzeigen kann.

Am liebsten hinter der Kamera: Sebastian Wehrle mit einem seiner zehn Apparate.
Am liebsten hinter der Kamera: Sebastian Wehrle mit einem seiner zehn Apparate. | Bild: Uli Fricker

Inzwischen leben er und seine Frau gut davon. Seine Bilder mit den strengen Frauengestalten zwischen Madonna und Lara Croft laufen. Wehrle sagt es ohne Schnörkel: „Ich sehe mich als Künstler.“

Er geht jetzt auch kein nicht mehr auf Hochzeiten oder Betriebsfeiern, um dort Bräute oder Firmengründer abzulichten. In seinem Atelier in Freiamt nimmt er keine Porträtaufträge an. „Ich weiß doch, wie schnell man sich verzettelt“, sagt er.

Der Mann macht einfach, was er will. Ein Schwarzwälder hat sich seinen Lebenstraum verwirklicht. Wenn die Gotti gewusst hätte, was sie ihrem Geschenk anrichtet.