Michael Munkler

Es ist spät in der Nacht zum 12. Juli 2021, irgendwann nach 24 Uhr. Meteorologin Linda Fyzer hat Bereitschaftsdienst in der an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr besetzten Weather Factory (Wetterfabrik) von Meteogroup in Appenzell in der Schweiz.

Sie sitzt vor mehreren Bildschirmen, beschäftigt sich mit meteorologischen Modellrechnungen für die nächsten Stunden und Tage, analysiert die Daten. Ihr Arbeitgeber ist unter anderem auf Vorwarnungen spezialisiert, liefert aber auch Prognosen an Firmen und Kommunen, an Flughäfen und Energieversorger.

Beim Blick auf die Wettermodelle springt der 27-Jährigen eine sonst eher seltene Übereinstimmung ins Auge: Nach Interpretation aller Daten verschiedener Berechnungen muss in jener Woche am Mittwoch im Süden von Nordrhein-Westfalen und im nördlichen Rheinland-Pfalz von einer ungewöhnlich kritischen Situation wegen extremer Regenmengen ausgegangen werden.

Die Meteorologin markiert die entsprechenden Städte und Kreise in der Karte des Warndienstes „Unwetterzentrale“ rot. Das heißt: große Gefahr, in diesem Fall vor Starkregen, Hochwasser, Überschwemmungen. Das machen zu diesem Zeitpunkt auch andere Dienstleister, der Deutsche Wetterdienst (DWD) beispielsweise.

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Die Faktenlage ist eindeutig

Am nächsten Morgen schaut sich Meteogroup-Chef Joachim Schug, 62, die Sache genauer an. „Ich habe dann die betroffenen Gebiete auf der Karte sogar auf Violett gestellt“, betont er. Das bedeutet: extreme Gefahr. „Die höchste Stufe auf der vierteiligen Skala“, merkt er an.

So etwas komme in einem derart frühen Stadium für ein doch recht großes Gebiet nur sehr selten vor: „Vielleicht einmal im Jahr.“ Schließlich sind es bis zum Zeitpunkt des erwarteten Extrem-Ereignisses ja noch gut zwei Tage. Das sei ungewöhnlich früh gewesen, sagt Joachim Schug heute. Und über so eine Wetterlage werde auch im Team diskutiert. Aber die Faktenlage ist eindeutig: „Da kommt etwas ganz Großes.“

Dann reißen ab Mittwochnachmittag, 14. Juli, die Fluten vor allem im Ahrtal, in der Nordeifel, aber auch im Bergischen Land nahe Wuppertal alles mit sich. Bislang sind mindestens 170 Menschen gestorben.

Ein Besuch in der Wetterfabrik im knapp 6000 Einwohner zählenden Ort Appenzell im gleichnamigen Kanton. Hier, untergebracht in einem weitläufigen, lichtdurchfluteten Bürogebäude aus Holz mit großen Glaselementen, Büros und Tagungsraum, arbeitet ein 25-köpfiges Team, darunter zehn Meteorologinnen und Meteorologen. Nach so viel Aufregung in den vergangenen Wochen mit vielen Unwetter-Ereignissen sei es jetzt „endlich mal ruhiger“, sagt Linda Fyzer. Sie ist an diesem Tag wieder im Dienst.

Linda Fyzer hat Bereitschaftsdienst in der an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr besetzten Weather Factory (Wetterfabrik) von Meteogroup ...
Linda Fyzer hat Bereitschaftsdienst in der an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr besetzten Weather Factory (Wetterfabrik) von Meteogroup in Appenzell. | Bild: Michael Munkler

Schug, seit mehr als 30 Jahren in der Wetterbranche tätig, hat die jüngsten Extrem-Ereignisse mit seinen Kollegen analysiert, und sie haben viel darüber gesprochen. Vor allem geht ihm ein Gedanke nicht aus dem Kopf: „Wie konnte es dazu kommen, dass so viele Menschen sterben mussten?“

Der Meteorologe hat eine Vermutung: „Ich habe den Eindruck, dass bei der Alarmierung der Bevölkerung und der Kommunikation vor und bei dem Unwetter nicht alles geklappt hat.“ Er schränkt aber auch ein: „Das zu bewerten ist nicht Aufgabe von uns Meteorologen.“ Ihr Job sei es, möglichst treffsichere Prognosen zu liefern.

Das ist nach seiner Überzeugung bei diesem Flutereignis gelungen, wie man den staatlichen und privaten Wetterdienstleistern auch bescheinigt habe: „Wir waren ja alle selbst erstaunt, wie früh und einheitlich dieses Ereignis von allen Modellen simuliert wurde.“

Treffsicherheit von 85 Prozent

Meteogroup hat nach Schugs Worten Zugriff auf die Daten von 15 nationalen Wettermodellen, die von riesigen leistungsstarken Computern erstellt werden. Etwa fünf Modelle würden immer zurate gezogen. Generell gilt: Je einheitlicher die verschiedenen Berechnungen sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es auch so kommt. Die Treffsicherheit der Warnungen und Prognosen geben Meteorologen heute mit etwa 85 Prozent an.

In Appenzell, eingebettet in eine hügelige Berglandschaft mit vielen grünen Wiesen auf 780 Metern Höhe, entstehen seit Oktober vergangenen Jahres sämtliche digitale Warnkarten der „Unwetterzentrale“ für Deutschland.

Der Unternehmensstandort Berlin wurde ebenso geschlossen wie Warschau, London, Madrid oder Brüssel. Alles konzentriert sich jetzt auf Utrecht in den Niederlanden für mehrere europäische Länder und eben Appenzell am Rande des Alpstein-Massivs, sonst vor allem bekannt für den berühmten Käse.

Aus dem Zusammenschluss von Meteogroup, der Firma DNT aus den USA sowie Weatherzone in Australien sei der weltweit größte private Wetter-Dienstleistungskonzern entstanden, erzählt Schug. Man trage im deutschsprachigen Raum aber weiter den Markennamen Meteogroup.

Joachim Schug ist in Sonthofen im Oberallgäu aufgewachsen, hat in Innsbruck Meteorologie studiert und in jungen Jahren nach einem Abstecher in die Gletscherforschung 15 Monate auf der Neumayer-Forschungsstation in der Antarktis verbracht.

Eine Frage müssen sich Klimatologen und Meteorologen in diesen Tagen immer wieder stellen lassen: Werden Unwetter-Ereignisse wie zuletzt im Westen und wenig später auch im Südosten Deutschlands durch die vom Menschen verursachte Klimaerwärmung verursacht oder gab es solche Extreme auch früher schon? Für Schug ist das überhaupt keine Frage.

Meteogroup-Chef Joachim Schug erstellt Warnkarten für Unwetter in Deutschland.
Meteogroup-Chef Joachim Schug erstellt Warnkarten für Unwetter in Deutschland. | Bild: Michael Munkler

Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten hat er angesichts der globalen Erwärmung vorhergesagt, was heute immer öfter auftritt: lokal extreme Niederschläge, die immer häufiger zu Überschwemmungen führen. „Die werden ganz entscheidend vom Menschen mit verursacht“, hatte er bereits zu einem Zeitpunkt erklärt, als der Klimawandel noch kein großes Thema in der öffentlichen Diskussion war.

Durch den Temperaturanstieg könne die Luft mehr Feuchtigkeit speichern, erläutert er. Irgendwann komme es dann zu diesen seit Längerem zu beobachtenden relativ kleinräumigen Starkregen-Fällen. Die jüngste Unwetterlage erklärt er meteorologisch so: Warme und sehr feuchte Mittelmeerluft von Tief „Bernd“ sei „mit einem Umweg über den Balkan“ aus dem Süden in einer weiten Links-Schleife in die Mitte Deutschlands gezogen und habe sich dann von Norden über das Katastrophengebiet gelegt.

Die Regenwolken seien dann vor allem an der Eifel quasi hängen geblieben und hätten sich entladen. „Diese Luftmasse war rekordverdächtig feucht“, sagt Schug, und das hänge eben auch mit der Klimaerwärmung zusammen.

Weil die Niederschlagsgebiete kaum weiterzogen, kam es zu den extremen Regenfällen. „Zudem gab es eingelagerte Gewitter, die die Niederschläge auf kleinstem Raum in kurzer Zeit noch erhöhten.“ An einer Messstation in Köln beispielsweise wurde der langjährige Rekord um mehr als 50 Prozent übertroffen.

Wird zu viel und zu oft gewarnt?

Doch nicht jedes große Regentief führt zwangsläufig zu Überschwemmungen. „Wenn für 24 Stunden über 200 Liter Regen prognostiziert werden, dann ist das zunächst einmal eine riesige Menge“, sagt Schug. Aber es sei ein gewaltiger Unterschied, ob die – so wie Mitte des Monats in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen – in kürzester Zeit fallen oder als lang anhaltender Landregen mit zehn Litern pro Stunde über einen ganzen Tag und eine Nacht verteilt niedergehen.

Wird vielleicht aber auch einfach zu viel und zu oft gewarnt, wie in sozialen Medien gemutmaßt wird? Was dazu führen könnte, dass die Menschen die Prognosen nicht mehr ernst nehmen? Schug schüttelt den Kopf. „Nein“, es gebe nicht mehr Warnungen, häufig würden sie aber vielleicht falsch interpretiert.

In Erftstadt-Blessem in Nordrhein-Westfalen ist das Ausmaß der Verwüstung von oben sichtbar.
In Erftstadt-Blessem in Nordrhein-Westfalen ist das Ausmaß der Verwüstung von oben sichtbar. | Bild: Rhein-Erft-Kreis/dpa

Der Deutsche Wetterdienst erstellte 2020 160.000 Wetter- und Unwetterwarnungen. Dabei ging es 6000 Mal um erwartete größere Unwetter. Darunter waren gut 500 prognostizierte Extrem-Ereignisse.

Ein Jahr zuvor und auch 2018 waren die Zahlen noch deutlich höher, vermeldet die Behörde unter dem Dach des Bundesverkehrsministeriums. Der DWD beruft sich generell auf standardisierte Warnkriterien und unterscheidet – wie Meteogroup – unterschiedliche Intensitätsstufen.

Ortwin Renn ist Experte für Umwelt- und Risikosoziologie. Er rückt eher die Bürger denn die Meteorologen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. So müsse „eine etwas realistischere Einschätzung über Plötzlichkeit und Gewalt von Unwettern“ stärker ins Bewusstsein dringen, sagt der Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam. Die Frage stellt sich ja schon: Warum gehen Leute noch eine Runde joggen, wenn Meteorologen vor Gewittern warnen?

Bisher ging es oft glimpflich aus

Laut Renn liegt das daran, dass Deutschland bisher weitgehend gut davongekommen ist, wenn es um Naturgefahren geht. Zwar bleiben Sachschäden, selten aber geht es um so viele Menschenleben.

„Wir haben eine lange Erfahrung damit, dass es glimpflich ausgeht.“ Selbst hochwassererprobte Menschen gingen oft davon aus, bei einer Warnung reiche es, Sandsäcke vor die Türen zu legen. Für viele Deutsche komme Natur „eher als Park mit Enten und Schwänen daher“, sagt er. „Nicht als Naturkraft mit Gewalten.“

In Appenzell schaut Meteorologin Linda Fyzer an diesem Nachmittag verwundert auf den Bildschirm. Im Schwarzwald haben sich aus dicken Quellwolken Gewitter entladen, weitere könnten folgen. Das zeigt der Blitz-Radar, der überwacht wird. „Nichts Dramatisches“, sagt sie. Aber auch nicht überraschend an einem Tag, der – wettertechnisch – in Deutschland eigentlich ganz ruhig verlaufen sollte.

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