Hippo war ein beschauliches Fleckchen Erde an der nordafrikanischen Küste. Dann kam der Delfin. Immer wieder näherte er sich einer Gruppe von Kindern, die im Wasser spielten. Der zutrauliche Meeressäuger ließ sogar einen wagemutigen Jungen auf seinen Rücken klettern, um mit ihm durch die Wellen zu reiten. Bald lockte das maritime Spektakel eine stetig wachsende Zahl von Neugierigen in das antike Städtchen.

Sehr zum Unmut der meist römischen Einwohner, die lieber unter sich geblieben wären. „Schließlich verlor der Ort selbst seine Ruhe und Abgeschiedenheit“, berichtet Plinius der Jüngere in einem seiner Briefe, die bis heute im Lateinunterricht gelesen werden.

Der Senator und Rechtsgelehrte beschreibt als möglicherweise erster Autor einen Fremdenverkehr aus der Perspektive der Opfer, also der Menschen, die darunter leiden, dass ihre Heimat zur Attraktion geworden ist. Mit der römischen Antike begann ein Phänomen, das seit der Airbnb-Ära weltweit immer mehr Menschen den Alltag erschwert: Es heißt Übertourismus, auf Neudeutsch „Overtourism“.

Römisches Straßennetz befördert Reiselust

Wie kam es dazu? Bereits im klassischen Griechenland ging man zu privaten Zwecken auf Wanderschaft. Orakelstätten wie das Apolloheiligtum von Delphi zogen Interessenten von weit her an. Wie fast alles, was die Hellenen begonnen hatten, wurde auch die Kultur des Reisens von den Römern aufgegriffen und weitergetrieben. Von einem antiken Tourismus, der sich als Wirtschaftsfaktor bemerkbar macht, spricht die Geschichtswissenschaft ungefähr ab dem ersten Jahrhundert nach Christi.

Mit der Epoche der Pax Romana, dem Römischen Frieden (zwischen 27 v. Chr. und ca. 200 n. Chr.) erlebte die Supermacht vom Tiber ihre ökonomisch wie politisch stabilste Phase. Quasi der gesamte Mittelmeerraum war unterworfen. Das Netz befestigter Straßen umfasste, so schätzen Fachleute, 100.000 Kilometer. Diese Infrastruktur, obschon zunächst für den Handel und das Militär errichtet, begünstigte auch die private Mobilität. Die einen machten sich auf den Weg, um berühmte Baudenkmäler wie die Pyramiden von Gizeh zu bestaunen, andere wollten es sich am Meer gut gehen lassen. „Zum ersten Mal in der Geschichte“, konstatiert der Historiker Tony Perrottet, „wurden Neugier und Vergnügen ein akzeptables Motiv dafür, seine Heimat zu verlassen.“

Asterix-Hefte liegen nicht falsch

Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelten sich die Römer zu antiken Reiseweltmeistern. Insofern besitzen auch einige anachronistisch klingende Einfälle aus Asterix-Heften einen wahren Kern: Man denke nur an die von Pferden gezogenen Wohnwagen, die sich zum Sommeranfang an der Grenze stauen („Asterix in Spanien“), oder an die mediterranen Bauern, die den Exodus aus dem Norden mit „Total plemplem, die Lutetier!“ kommentieren („Tour de France“).

Zu Wagenrennen und Gladiatorenkämpfen

Allem Fantasiereichtum der Asterix-Erfinder zum Trotz: Dass das Reisen schon vor zweitausend Jahren Probleme mit sich brachte, ist ein Fakt. Unter hohem Andrang litt zuallererst die Hauptstadt des Imperiums selbst. Menschen aus allen Ecken des Weltreichs strömten auf der Suche nach Arbeit an den Tiber. Dieser ohnehin bestehende Dichtestress wurde durch temporäre Gäste, die wegen der Wagenrennen oder der Gladiatorenkämpfe kamen, verschärft.

Überquellende Tavernen

Alteingessene Bürger klagten über zahlreiche Einschränkungen, die Bewohnern moderner Touri-Hotspots befremdlich bekannt vorkommen. Die Wohnungen in den Insulae, den römischen Mietshäusern, wurden unbezahlbar. Selbst eine (vorübergehend) eingeführte Mietpreisbremse änderte daran wenig. Der Trubel machte das antike Leben für viele zur Hölle: verstopfte Straßen, überquellende Tavernen und Lärm, Lärm, Lärm. „In Rom ist Schlaflosigkeit eine der häufigsten Todesursachen“, ätzt der Satiriker Juvenal um 100 n.Chr.

Damals wie heute bedeutet das Geschäftsmodell der einen (der Gastronomen und Fremdenführer) das Unglück der anderen. Die Analogien zur Moderne sind nicht zuletzt deshalb so bestechend, weil man aus vergleichbaren Beweggründen reiste. Denn die unterschiedlichen Formen des Fremdenverkehrs nahmen sogar dessen neuzeitliche Ausdifferenzierung vorweg: von der medizinischen Bäderreise über die Pilgerfahrt bis zum Event-Tourismus, wie er beispielsweise rund um die Festspiele von Olympia stattfand.

An die Stätten der griechischen Mythologie

Besonders voll wurde es an den Schauplätzen fiktionaler Werke. Im 21. Jahrhundert pilgern Fans bekanntlich zu Tausenden an die Drehorte von Harry-Potter-Filmen oder Streamingserien wie „Game of Thrones“. Ein ähnliches „Set-Jetting“, wie Trendforscher sagen, betrieb der gebildete Römer. Er wollte die Stätten der griechischen Mythologie mit eigenen Augen sehen.

Homers Troja rangierte dabei weit oben. Das kleinasiatische Novum Ilium („Neu-Troja“), das sich mutmaßlich an der Stelle der von den Griechen zerstörten Stadt befand, war ein echter Must-See-Ort. Ägyptische Kulturdenkmäler standen gleichfalls hoch im Kurs. Behandelt wurden sie indes noch respektloser als heute. An den Memnon-Kolossen in Theben, die zu bestimmten Tageszeiten obskure Töne von sich gaben, haben Besucher zahlreiche Inschriften hinterlassen.

Saufen am Golf von Neapel

Auch der sogenannte Sauftourismus entfaltete sich bereits in den Tagen von Augustus und Tiberius. Zur ersten Adresse für Partyferien stieg Baiae auf. Der Badeort am Golf von Neapel war wegen seiner Thermen geschätzt und wegen seiner Orgien berüchtigt. Geistesmenschen wie den Philosophen Seneca schreckten die alkoholischen Exzesse in dem antiken Ballermann ab. „Wieso muss ich mir Betrunkene ansehen, die die Küste entlang torkeln, und laute Gelage auf Segelbooten, von denen Musik dröhnt?“

Ein Privileg der Elite

Gewiss, noch war Reisen das Privileg einer Elite und deswegen im Vergleich zur Gegenwart quantitativ überschaubar. Allerdings fuhren reichere Römer selten allein los, sondern ließen sich von einem Tross aus Verwandten, Sklaven und Leibwächtern begleiten. In der Summe sorgte das durchaus für ein heftiges Geschubse. „Ist man nicht zwischen den Menschenmassen eingekeilt? Ist es nicht schwierig, an ein Bad heranzukommen?“, schimpfte der Philosoph Epiktet (um 55-135 n. Chr.) über die Olympischen Spiele.

Erwartung und Realität

Seit es Tourismus gibt, so zeigt die Geschichte, wird er von Menschen kritisiert. Einige antike Stimmen zogen die positiven Effekte des Urlaubens generell in Zweifel. Strabon, Geograph und Historiker, beobachtete eine große Ernüchterung unter Touristen. „Die Menschen reisen, um die Wunder der Welt zu sehen, und oft sind sie von den Orten, die sie besuchen, enttäuscht, weil die Realität nicht den Erwartungen entspricht.“ Im Klartext: Wer einfach zu Hause bleibt, verschont nicht nur andere. Letztlich tut er sich selbst etwas Gutes.

Der Blick auf den antiken Fremdenverkehr liefert aber auch eine positive politische Erkenntnis: Tourismus, egal wie nervtötend er sich bisweilen auswirkt, signalisiert, dass eine Gesellschaft noch vergleichsweise gefestigt ist. Als nämlich innere und äußere Feinde Rom ab dem 3. Jahrhundert immer stärker unter Druck setzten, ging das Reiseaufkommen merklich zurück. Die Einwohner von Hippo freilich hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon längst selbst zu helfen gewusst. „Man beschloss“, verrät Plinius, „den Grund für das Zusammenströmen der Leute heimlich zu beseitigen.“ Der Delfin wurde getötet.