„Alle Kinder zu mir!“ Christian Stückl rennt auf der großen Freilicht-Bühne von Oberammergau umher wie ein Löwendompteur. Der Regisseur steckt voller Energie, schickt Kinder hierhin und Erwachsene dorthin. Heute ist die erste große Probe der Passionsspiele, die nach zwölf Jahren Pause in diesem Jahr wieder gezeigt werden sollen.

Der Spielleiter: Christian Stückl ist Regisseur der Passionsfestspiele.
Der Spielleiter: Christian Stückl ist Regisseur der Passionsfestspiele. | Bild: Gabriela Neeb/Passionsspiele Oberammergau 2022

Auf der Bühne in dem bayrischen Alpenstädtchen wird heute der Einzug Jesu nach Jerusalem geprobt, mit vielen Kindern und dem Volk. Musik vom Band ertönt, das berühmte „Heil Dir“ des Oberammergauer Komponisten Rochus Dedler.

Erste Volksprobe bei den Passionsspielen Oberammergau Video: Schierle, Beate

Zuvor hat uns Jesus von Nazareth begrüßt. Frederik Mayet ist einer der beiden Jesus-Darsteller. Seine angenehme Stimme und seine Haltung passen perfekt zu dem großen Begründer des Christentums. Mayet wird ihn gemeinsam mit Rochus Rückel den ganzen Sommer über verkörpern.

Frederik Mayet ist einer der beiden Jesus-Darsteller und zugleich Pressesprecher der Passionsspiele.
Frederik Mayet ist einer der beiden Jesus-Darsteller und zugleich Pressesprecher der Passionsspiele. | Bild: Gabriela Neeb, Passionsspiele Oberammergau 2022

1633 gelobten die Oberammergauer nach einem entsetzlichen Pestausbruch im Ort, alle zehn Jahre ein Spiel vom Leiden und Sterben Jesu auszurichten, wenn die Seuche den Ort künftig verschone.

Vor der Premiere wird noch fleißig gewerkelt: Blick vom Zuschauerraum im Freiluft-Theater auf die große Bühne.
Vor der Premiere wird noch fleißig gewerkelt: Blick vom Zuschauerraum im Freiluft-Theater auf die große Bühne. | Bild: Sebastian Schulte/Passionsspiele Oberammergau 2022

Nur Corona unterbrach die Kontinuität – eigentlich hätte das Spiel bereits 2020 stattfinden sollen. Das Landratsamt Garmisch-Partenkirchen untersagte die Aufführung – gesundheitspolitisch völlig verständlich, aber für die Oberammergauer ein Desaster.

Blick in die Schneiderei: Hier herrscht schon Monate vor der Premiere Hochbetrieb.
Blick in die Schneiderei: Hier herrscht schon Monate vor der Premiere Hochbetrieb. | Bild: Schierle, Beate

Umso mehr ist jetzt die Vorfreude spürbar. Premiere soll am 14. Mai sein. Im Ort sieht man viele Männer mit langen Bärten und langen Haaren, die sie modisch-schick als Männerdutt tragen. In der Schneiderei liegen Stoffballen in verschiedenen Mustern bereit, die Schneiderin ist konzentriert bei der Sache. In einer Umkleide werden einige Kinder zur Kostümprobe versammelt, ein Haufen biblisch anmutender Sandalen liegt davor.

Der Löwe und sein Schöpfer: Tobias Haseidl ist eigentlich Holzschnitzer, aber auch Bühnenbildmeister in Oberammergau. Die Löwen sind wie ...
Der Löwe und sein Schöpfer: Tobias Haseidl ist eigentlich Holzschnitzer, aber auch Bühnenbildmeister in Oberammergau. Die Löwen sind wie viele Figuren aus einer Mischung aus Polyurethan und Glasfaser gefertigt. | Bild: Schierle, Beate

Tobias Haseidl ist eigentlich Holzschnitzer und Chef der Bühnenbildnerei. Er ist zuständig dafür, dass die Löwen, die in Daniels Löwengrube ihren gruseligen Auftritt haben, ebenso eindrucksvoll aussehen wie eine gewaltige rote Schlange. Die Figuren fertigen er und seine Kollegen meist aus Polyurethan, das mit Glasfaser verstärkt wird. Das sei leichter und schneller zu bearbeiten als Holz, meint er.

Vorn auf der Bühne üben zwei Reiter den Auftritt mit zwei Pferden, denn in Oberammergau spielen immer auch Tiere mit. Jesus wird bei seinem Einzug in Jerusalem von einem Riesenesel getragen. Esel Sancho, der noch vor Kurzem als Reittier angekündigt wurde, ist krank und musste einen Nachfolger bekommen. Esel Aramis ist an diesem Morgen nicht erschienen – seine Menschen haben Corona. Alltag im Jahr 2022.

Blick hinter die Kulissen: Diese rote Schlange wird man in diesem Sommer auf der Bühne der Passionsspiele sehen.
Blick hinter die Kulissen: Diese rote Schlange wird man in diesem Sommer auf der Bühne der Passionsspiele sehen. | Bild: Schierle, Beate

Sämtliche Oberammergauer Handwerker, so scheint es, sind an diesem Morgen in Arbeitskleidung erschienen, um das rasche Transportieren der gewaltigen Kulissen zu üben, das Einpassen der Figuren in einzelne Bühnenbilder zu koordinieren und sich zwischendurch auf Bayrisch herzhaft, aber liebevoll anzugranteln.

Hinter den Kulissen von Oberammergau Video: Schierle, Beate

Es ist eine Ehre, bei den Passionsspielen mitzuwirken, die im Ort nur kurz „Passion“ genannt werden. Regisseur Christian Stückl ist es zu verdanken, dass das Textbuch bei seinem Amtsantritt von alten, antisemitischen Passagen befreit wurde.

Nun spielen die Jungen wieder gerne mit, den Frauen wurde eine größere Rolle zugestanden, auch wenn sie diese vor Gericht einklagen mussten. Wenn Jesus Sätze sagt wie „Kriegsgeschrei erfüllt das Land, Armut und Krankheit raffen euch dahin und ihr hungert und dürstet nach Gerechtigkeit“, verursacht das in Zeiten von Pandemie, Flüchtlingskrise und Ukraine-Krieg noch immer Gänsehaut.

Drei Akteure: Maria (Eva-Maria Reiser), Josef von Arimathäa (Walter Rutz; auch Werkleiter), Johannes (Christoph Stöger).
Drei Akteure: Maria (Eva-Maria Reiser), Josef von Arimathäa (Walter Rutz; auch Werkleiter), Johannes (Christoph Stöger). | Bild: Schierle, Beate

Eva-Maria Reiser war im Spiel von 2010 die Maria Magdalena, nun wird sie Maria, Jesu Mutter verkörpern. Beides sind zwei äußerst reizvolle Frauenrollen, wie sie findet. Maria Magdalena ist eine starke, selbstbewusste Frau, die immer mehr als Weggefährtin von Jesus gesehen wird; nun spielt Reiser die liebevolle Mutter, die ihren Sohn ziehen und loslassen muss, obwohl sie um sein grausames Ende weiß.

Umhüllt: Das Museum Oberammergau ist derzeit in einen Kubus aus Passionsgewändern der jahre 2000 und 2010 gekleidet. Diese Installation ...
Umhüllt: Das Museum Oberammergau ist derzeit in einen Kubus aus Passionsgewändern der jahre 2000 und 2010 gekleidet. Diese Installation gehört zur neuen Ausstellung „(Im-)Materiell“, die parallel zu den Passionspielen gezeigt wird. | Bild: Schierle, Beate

Erst im Oktober wird in dem bayerischen Städtchen wieder Ruhe einkehren. Dann, so verrät Ulrike Bubenzer vom Museum, werden die Friseure im Ort die Nacht durcharbeiten und alle Männer im Ort von langen Haaren und Bärten befreien. Bis der Kreislauf der Spiele von Neuem beginnt.

Klassisches Oberammergau: Der Ort ist für seine „Lüftlmalereien“, kunstreich gemalte Scheinfassaden, bekannt. Viele ältere ...
Klassisches Oberammergau: Der Ort ist für seine „Lüftlmalereien“, kunstreich gemalte Scheinfassaden, bekannt. Viele ältere sind in Fresken-Technik gemalt und stammen von Franz Seraph Zwinck (1748-1792). Diese hier ist deutlich moderner. | Bild: Schierle, Beate