Das Viertel ZEN im Norden Palermos ist einer der Orte, den Touristen bei einem Sizilienbesuch eher meiden. Kleinkriminalität und Drogenhandel sind an der Tagesordnung. Die Cosa Nostra hat hier großen Einfluss, wie überall auf Sizilien, wo die Armut mit Händen zu greifen ist. Die Corona-Epidemie hat die Sache noch verschlimmert. „Die Menschen haben ihre Arbeit verloren, manche arbeiteten in den Bars, andere als Putzfrauen, viele in Schwarzarbeit“, sagt eine Mitarbeiterin des Vereins Bayty Baytik, der mittellosen Menschen im ZEN, der Zona Espansione Nord, hilft. „Es gibt Familien, die haben nicht einmal mehr die paar Euro, um etwas zum Essen einzukaufen.“
Aufleben der Mafia durch den Stillstand der Wirtschaft?
Süditalien ist ein soziales Pulverfass, besonders jetzt. Der Gefahr von Plünderungen begegnet der Staat mit Polizeipräsenz. Vor vielen Supermärkten in Palermo stehen inzwischen Carabinieri. Doch die Gefahr sozialer Revolten ist nur die eine Seite der Medaille. Italien – und insbesondere der ärmere Mezzogiorno – hat ein weiteres drängendes Problem: die Mafia. Experten rechnen angesichts des derzeitigen wirtschaftlichen Stillstands des Landes und der Rezession mit einem Aufleben der Organisierten Kriminalität. „Ich mache mir Sorgen im Hinblick auf die Situation, die sich im Land abzeichnet“, sagt die italienische Innenministerin Luciana Lamorgese.
Mafia-Organisationen könnten die Corona-Krise für sich nutzen. Sollten Nahrung, Medikamente oder Benzin während der Ausgangsbeschränkungen knapp werden, dann seien die verschiedenen Mafia-Organisationen sicher die ersten, die einen Schwarzmarkt aufbauen, schrieb der Mafia-Experte und Autor Roberto Saviano in der Tageszeitung „La Repubblica“. Medienberichten zufolge handeln Kriminelle in Italien bereits mit Mundschutzmasken, Desinfektionsmittel und anderen knapp gewordenen Schutzartikeln.
Warnung des Innenministeriums
Auch die auf die Organisierte Kriminalität spezialisierte Abteilung im italienischen Innenministerium warnte Polizei und Carabinieri. Es bestehe das „Risiko von Infiltrationen und der Nutzung von Strohmännern zur Geldwäsche“, zitieren italienische Medien aus einem vertraulichen Dokument. Die gegenwärtige Krise führe zu „weniger Liquidität, einer starken Veränderung der Arbeitsmärkte und dem Fluss vieler Subventionen“, also zu Faktoren, die Cosa Nostra, ‚Ndrangheta und Camorra begünstigen. Im Hinblick auf Unterwanderungen seien vor allem folgende Branchen gefährdet: Lebensmittel, Pharma, Tourismus, Gaststätten, Logistik sowie kleine und mittlere Betriebe insgesamt.

Das sich abzeichnende Szenario ist beispielsweise das eines Gaststättenbesitzers, der nach wochenlanger Schließung Personal und Miete nicht mehr bezahlen kann und sich deshalb an diejenigen wendet, die trotz Krise noch flüssig sind. In vielen Fällen sind das die Clans, die etwa Geld aus dem Drogenhandel als „Kredit“ reinzuwaschen versuchen. „Die Organisierte Kriminalität könnte bald zahlreiche Aktivitäten der legalen Wirtschaft kontrollieren“, befürchtet Staatsanwalt Nino Di Matteo, bis vor Kurzem als Antimafia-Ermittler in Palermo tätig. „Das wäre ein Schritt der Legalisierung der Mafia, den wir unbedingt vermeiden müssen.“ In der nationalen Antimafia-Behörde DIA denkt man bereits an den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Corona-Krise: „Es wird sehr viel Geld in Umlauf sein“, sagt DIA-Chef Giuseppe Governale. Die Mafia-Organisationen planten bereits „sorgfältig“ für diese Zeit voraus. Die Ermittler müssten die Augen offen halten.
Doch das ist leichter gesagt als getan. Polizisten werden derzeit für andere Zwecke gebraucht. Die chronisch überforderte italienische Justiz wird durch die Pandemie nicht entlastet, im Gegenteil. Hunderte Prozesse sind in Italien zum Erliegen gekommen. „Die Arbeit der Justiz wird in den kommenden Wochen und Jahren erschwert“, prognostiziert Giuseppe Pignatone, Antimafia-Staatsanwalt und früher Chef-Ermittler in Reggio Calabria und Rom. Aus Sorge vor Ansteckungen sollen in Italien 2500 Gefangene aus den Haftanstalten in den Hausarrest entlassen worden sein, darunter auch Mafiosi mit geringen Haftstrafen. „Das ist eine tatsächliche Gefahr“, sagt der bekannteste Antimafia-Ermittler Kalabriens,
Nicola Gratteri.
„Nur in Zeiten des Friedens“
Dass die Mafia, die bereits unter normalen Bedingungen die Justiz vor eine Herausforderung stellt, den Ausnahmezustand auszunutzen versucht, gilt als sicher. Bestseller-Autor Roberto Saviano, der seit Jahren zum Thema recherchiert, formuliert es so: „Wenn du Hunger hast und Brot suchst, dann ist es dir egal, aus welchem Ofen es kommt und wer es verteilt; wenn du eine Medizin brauchst, dann fragst du dich nicht, wer sie verkauft, du willst sie und Schluss. Eine Wahl hat man nur in Zeiten des Friedens und des Wohlstands.“