Frau Berger, Sie leben bei München, stammen aber aus Wien, wo Sie als Kind den Krieg noch miterlebt haben. Gehen Ihnen gerade deshalb die Ereignisse in der Ukraine näher als anderen?

Ich glaube nicht, dass man das so formulieren sollte. Ihnen gehen die Bilder sicherlich auch nahe. Das ist eine furchtbare Situation, die wir hier gar nicht wirklich begreifen können. Wir sitzen im Warmen, während ein paar Tausend Kilometer weiter der Krieg tobt.

Der russische Angriff auf die Ukraine, zuvor Corona, dann die Inflation: Gefühlt springen wir von einer Krise zur nächsten. War früher alles besser?

Über einen Krieg im Sudan hätten wir früher niemals etwas gehört. Als ich jung war, sogar als ich schon eine junge Frau war, waren die Medien nicht so vielfältig und stark. Möglicherweise wäre es eine Notiz gewesen auf der letzten Seite irgendeiner kleinen Tageszeitung: Bürgerkrieg im Sudan. Heute ist das anders, heute sehen wir diese Bilder. Deshalb glaube ich nicht, dass die schrecklichen Ereignisse in unserer Zeit erst aufbrechen.

Wir sind heute also aufgeklärter?

Ja, und oft zieht man sich zurück, weil man diese Flut von Nachrichten nicht verarbeiten kann. Wirklich gefährlich finde ich heute das Internet. Und Social Media, die einen großen Druck ausüben und einen gar nicht mehr zu Atem kommen lassen, gar nicht mehr zu einer wirklichen Diskussion kommen lassen. Wenn du heute eine Nachricht anklickst, sagt dein Algorithmus schon: Ach, das gefällt dir, das ist eine Meinung. Gut, dann gefällt dir vielleicht auch diese Meinung, aber keine andere Meinung, sondern die Bekräftigung der Meinung, die du gerade gesehen und gehört hast. Dadurch polarisiert sich die Gesellschaft stark. Besonders gefährlich ist das für die jungen Leute, die wenig Informationen bekommen. Weniger, so scheint es mir, als im Schulsystem vor 20 Jahren.

Wo zeigt sich das Ihrer Meinung nach?

Es kann sein, dass es einfach an meinem Alter liegt, aber es fällt mir auf, dass mein Enkelsohn kein einziges Gedicht in der Schule lernt. Wenn ich ihm zum Beispiel vom Erlkönig erzähle – der Vater hält sein Kind im Arm, er hält es sicher, er hält es warm, und vom Fiebertraum, als das Kind die Nymphen sieht – da sagt mein Enkel: „Das ist toll. Das ist aufregend. Wo steht das?“ Das finde ich schade, weil es eine Dimension ist, die sich für die jungen Menschen später gar nicht mehr erschließt. Jetzt werden sie hingeführt zur Sprache und ja, zu einer Art von Kultur, die uns ausmacht.

Nehmen wir Bildung denn nicht wichtig genug?

Das Schulsystem an sich ist schwierig gestaltet. Es geht schon bei den Äußerlichkeiten los – wir lassen unsere Schulen verwahrlosen. Es gibt niemanden, der für die Toiletten zuständig ist, so schlimm, dass meine Enkelkinder mit einer Rolle Klopapier in die Schule gehen müssen. Sie haben Angst, überhaupt aufs Klo zu gehen, weil es so verdreckt ist. Das finde ich ein furchtbares Armutszeugnis. Denn auch das gehört zu unserer Haltung und zur erlernten Haltung der Kinder. Das ist das eine.

Und das andere?

Vor 30 Jahren hieß es: Bloß kein Lehrer werden, wir haben so viele Lehrer. Da hatten wir allerdings auch Klassen mit höchstens 26 Kindern. Wenn es mehr als 26 Kinder waren, musste eine neue Klasse gebildet werden. Heute sitzt mein Enkelkind in einer Klasse mit 36 Kindern und es finden sich keine Lehrer. Das scheint ein großes Problem zu sein. Ich finde schon, dass das vorrangig eine Investition wert wäre. Nun sind wir ja gerade in der Zeit, wo wir uns alle neu definieren und zurechtrücken müssen. Das, was im Koalitionsvertrag steht, ist nach dem, was in den letzten drei Jahren passiert ist, zu überdenken. Du kannst nicht Dinge einklagen, die nicht mehr machbar sind.

Sie allerdings sind eine intelligente Frau und auch ohne Abschluss erfolgreich geworden.

Ich habe eine einseitige Bildung, wenn Sie so wollen. Ich bin mit 16 vom Gymnasium abgegangen und ging dann ins Max-Reinhardt-Seminar. Dort hatte ich eine musische Weiterbildung, die, sagen wir, auch weit gespannt war. Nicht nur Theater oder Literatur, auch Malerei und Geschichte.

Ich habe gar nicht gewusst, was mir fehlt, als ich im Seminar angefangen habe. Ich habe nur die Augen und die Ohren aufgesperrt und habe, ohne es zu wissen, weiter gelernt. Natürlich, wenn Sie mich nach Mathematik und Physik fragen, dann liege ich da im Argen. Das ist so. Aber: Auch wenn ich das Abitur gemacht hätte, wüsste ich nur wenig darüber.

Wenn Sie an Ihre Kindheit und Jugend zurückdenken, welche Erinnerungen haben Sie da?

Ich hatte eine wunderbare Kindheit. Später in der Pubertät war ich leider sehr ungebärdig und verschlossen. Ich denke oft darüber nach: Was haben wohl meine Eltern in der Zeit gesprochen, wenn sie über mich nachgedacht haben? Ich habe jeglichen Kontakt versucht zu vermeiden, für ungefähr ein, zwei Jahre.

Aber wir haben uns dann wiedergefunden. Dadurch, dass ich bald ans Theater kam und in eine Welt der Erwachsenen. Da hatte sich niemand um mich gekümmert, niemand hatte meine pubertären Stimmungen oder Stimmungsschwankungen wahrgenommen. Das hat mir gut getan. Ich kam ganz schnell aus der Pubertät, die konnte ich mir nicht mehr leisten.

In Ihrer beruflichen Karriere wurden Sie mehrfach sexuell bedrängt. In Ihrer Biografie schreiben Sie, dass das fast schon systemisch war.

Gerade in der Zeit, in der ich da war, habe ich mit vielen Kolleginnen, die sehr viel berühmter waren als ich, darüber gesprochen, dass es einige große Studiobosse als ihr angestammtes Recht ansehen, mit den engagierten jungen Schauspielerinnen ein Verhältnis zu beginnen oder auch nur ein einmaliges Verhältnis zu haben. Ich selbst habe das so nicht erlebt. Aber anderes.

Man muss aufpassen, dass diese Bewegung, die sich unter dem Schlagwort MeToo etabliert hat, nicht den Inhalt überdeckt. So geht es mir immer, wenn etwas zu Schlagwörtern gerinnt oder irgendwie etikettiert wird. Aber letztlich hat dieses Meetoo doch dazu geführt, dass ganz unglaubliche Dinge passiert sind. Zum Beispiel, dass dieser wichtige, einflussreiche Harvey Weinstein verurteilt wurde. Das hat diese Bewegung fertiggebracht.

Senta Berger im Interview auf der Insel Mainau, rechts Politikredakteurin Elisa-Madeleine Glöckner.
Senta Berger im Interview auf der Insel Mainau, rechts Politikredakteurin Elisa-Madeleine Glöckner. | Bild: Hanser, Oliver

Haben sich die Zeiten inzwischen also geändert?

Es hat sich sehr viel verändert, weil Frauen heute ein anderes Selbstbewusstsein haben.

Was halten Sie denn vom Gendern?

Das Sternchen oder das Doppelpünktchen wird in der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Ich finde mich in dem Ausdruck „Mitglied des Burgtheaters“ wieder, ich muss nicht „Mitgliedin“ werden.

Wenn man spricht, dann kann man sich doch auch die Zeit nehmen, zu sagen: „Meine Damen, meine Herren, meine Zuschauer, meine Zuschauerinnen“. Ich muss nicht den kleinen Aufstoßer mittendrin im Wort haben, um das Gendern auszudrücken, das ist furchtbar und es ist unnötig. Und das überdeckt wieder das, was damit erreicht werden soll, nämlich das Selbstbewusstsein von Gruppen unter uns, die sich bis jetzt ausgeschlossen gefühlt haben.

Wie denken Sie über die Frauenquote?

Lange war ich gegen die Frauenquote, weil ich dachte, Talent und Wissen und Können wird sich durchsetzen – ohne dass wir eine bestimmte Quote einschlagen. Nun haben wir die Quote. Und ich finde schon, dass sie etwas gebracht hat. Was mir fehlt, ist, dass man sich auf die Situationen der Frauen einstellt. Eine Frau braucht ihren Raum, braucht Hilfe, braucht ein Denkmal. Sie bekommt Kinder, sie zieht diese Kinder auf. Diese Kinder werden Mitbürger werden. Sie werden Steuerzahler werden. Sie werden das Land prägen oder auch nicht.

Aber es gibt keine Kindergartenplätze, es gibt keine Tagesstätte, um die Frauen genügend zu entlasten. Es gibt keine Aufsicht, die, wenn eine Frau berufstätig ist, sie mit großer Qualität in der Kinderbetreuung vertreten kann. Es gibt zu wenig Tagesschulen, es gibt überhaupt nichts, was, sagen wir, einer Frau dazu verhilft, ihren Beruf und ihr privates Leben wirklich ohne Abstriche zu gestalten.

Schwer haben es Frauen auch in der Schauspielerei, jedenfalls ab einem gewissen Alter. Erst vor Kurzem haben mehrere Schauspielerinnen mehr Sichtbarkeit gefordert, weil sie sagen, ab 40 sei es kaum möglich, an gute Rollen zu kommen. Deckt sich das mit Ihrer Erfahrung?

Ab 40, entschuldigen Sie, da muss ich anfangen zu lachen: Da habe ich überhaupt erst angefangen zu arbeiten. Ab 60 habe ich „Unter Verdacht“ gedreht. Dass ältere Frauen keine guten Rollen bekommen, kann man also so nicht verallgemeinern. Es geht ja hier hauptsächlich um Fernsehen und im Fernsehen haben wir ein ganz bestimmtes Publikum, für dieses Publikum wird produziert. Je älter das Fernsehpublikum wird, desto mehr kann man auch die Geschichten der Älteren erzählen.

Sie beziehen sich aber nur auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen.

Das ist richtig. Die Privaten wenden sich gezielt an ein junges Publikum und werden einen Teufel tun, eine 40-Jährige zu zeigen, die sich gerade scheiden lässt und eine Boutique eröffnen will. Man muss für sich wissen: Schaue ich die Privaten oder die Öffentlich-Rechtlichen? Kaufe ich mir die „Bravo“ oder kaufe ich mir die „Zeit“? Das ist wie bei den Illustrierten – welches Blatt schlage ich auf? Bei beidem weiß ich, was mich erwartet

Ihre Rollen haben Sie immer mit Bedacht ausgewählt. Haben Sie je etwas abgesagt, das sie hinterher bereut haben – oder umgekehrt: etwas gespielt, auf das Sie im Nachhinein lieber verzichtet hätten?

Beides ist wahr. Dass ich meine Rollen mit Bedacht gewählt habe, dazu muss ich sagen: Ich konnte das auch. In unserem Leben war es immer so, dass ich mal gearbeitet habe und mein Mann vielleicht anderthalb Jahre oder zwei Jahre überhaupt keinen Film gemacht hat. Dann war es wieder umgekehrt. Michael hat gearbeitet und ich war zu Hause und die Kinder klein. Da habe ich mein ganzes Leben auf sie abgestellt. Und gerne auf sie abgestellt. Man muss sich das aber leisten können.

Eine Ihrer erfolgreichsten Rollen war die der Taxifahrerin Gerdi. Was mögen Sie an der besonders?

Es ist eine komödiantische Rolle. Da ist alles drin, was in mir angelegt ist. Ich bin ein bisschen domestiziert worden und bin nicht mehr derartig spontan und aufbrausend. Aber die Gerdi, die hat eben auf wunderbare Weise ihre kindliche Erwartung gehabt und auch eine kleine kriminelle Ader. Also auch die Dinge, die der Mensch eigentlich nicht ausleben darf. All das durfte ich in der Gerdi ausleben.

Sie sind jetzt 81, Frau Berger. Haben Sie in Ihrem Leben alles richtig gemacht?

Ob ich zufrieden mit dem, was ich habe oder wie es sich entwickelt hat? Ja. Dass ich alles richtig gemacht habe? Nein. Ständig stolpert man, fällt hin und steht wieder auf. Und manches Mal denkt man nach, will es beim nächsten Mal besser machen. Dann wiederholt man es, fällt wieder hin und schürft sich das Knie auf. Natürlich habe ich nicht alles richtig gemacht.

Mit Ihrem Mann sind Sie seit Jahrzehnten verheiratet. Wo liegt das Geheimnis Ihrer Ehe?

Ich weiß es nicht. Es gibt auf der Welt Paare, die zusammenbleiben, wir sind eben eines davon. Wir haben uns gesucht und gefunden. Und wir haben uns auch auseinander dividiert und dann wieder gefunden. Es kann nicht immer die reine Idylle sein, die reine Übereinkunft. Noch immer finde ich meinen Mann sehr reizvoll und sehr charmant und wir lachen viel zusammen. Wir haben zwei wunderbare Kinder. Ein Leben ohne ihn ist für mich unvorstellbar.

Wann werden wir Sie wieder vor der Kamera sehen?

Ich habe gerade einen Film gemacht, der gerade beim Münchner Filmfest läuft und im September ins Kino kommt. Er heißt „Weißt du noch?“ und ist die Geschichte von einem Ehepaar, ein Zwei-Personen-Film. Wie verbringt man die überschaubaren Jahre, die einem noch bleiben? Füllt man sie noch mit Reisen, mit Bildern, mit Erlebnissen? Oder zieht man sich zurück, weil man sagt, das Ende ist unabwendbar? Diese beiden Haltungen, die sich in diesem Lebensabschnitt gegenüber stehen, haben wir in einer ernsten Komödie verhandelt. Es geht ums Altwerden, ums Einssein und ums Sterben. Es geht aber auch um Mann und Frau. Und dass sie nicht zueinanderpassen.

Sie selbst haben dazu einmal gesagt: „Endlichkeit muss ich erst noch lernen.“ Haben Sie das inzwischen gelernt?

Nein, das kann man nicht. Man kann sich damit beschäftigen und das muss man auch. Aber wirklich daran glauben, das kann ich nicht.