Verdammt, ist die stachelig! Ich trage an der linken Hand einen recht dicken Handschuh, darüber noch einen Lederhandschuh. Trotzdem schafft es dieses Ding, mich leicht in den Handballen zu stechen. Dabei hat es doch einen ganz lieblichen Namen: Mariendistel. Im Mittelalter schrieb man die aderartigen weißen Streifen auf den Blättern der Milch Mariens zu, die das Jesuskind beim Stillen versabberte.

Stachelig: Die Mariendistel leistet Widerstand.
Stachelig: Die Mariendistel leistet Widerstand. | Bild: Wallisch, Roland

Hier in St. Leonhard in 1400 Meter Höhe, hoch über Brixen in Südtirol, arbeite ich als Freiwilliger auf dem Schmiedthof, einer Kräuterfarm. Ich ernte ein etwa acht Quadratmeter großes Feld der Mariendistel ab. Ich schneide die verwelkten Blüten ab, hacke mit der Sichel die bis zu zweieinhalb Meter hohen Pflanzen um und grabe am Schluss noch die Wurzelballen aus.

Farbtupfer: Autor Roland Wallisch mit einem Korb schöner und sauberer Malvenblüten.
Farbtupfer: Autor Roland Wallisch mit einem Korb schöner und sauberer Malvenblüten. | Bild: Wallisch, Roland

Die Mariendistel ist ein Wundermittel für die Leber. Sogar als Gegengift zum Gift von Knollenblätterpilzen werden ihre Inhaltsstoffe genutzt. Ausprobieren wollte ich das aber lieber nicht. Am Schmiedthof wird alles verwertet: Bevor die Mariendistel blüht, taugen die Blätter für einen Tee. In den verwelkten Blütenständen stecken die Samen, aus denen Öl gewonnen wird.

Die Wurzelballen werden gewaschen und getrocknet. Die umgehackte Pflanze wird ebenfalls getrocknet und dann verbrannt. Laurenz Frener, der junge Chef der Kräuterfarm, hat für die Asche und die Wurzelballen einen Kunden, der damit spagyrische Medikamente herstellt, also Mittel, die der alchemistischen Naturheilkunde nach Paracelsus entsprechen.

Erntereif: Abgezupft werden bei der Königskerze nur die offenen Blüten.
Erntereif: Abgezupft werden bei der Königskerze nur die offenen Blüten. | Bild: Wallisch, Roland

Andere Arbeiten sind wesentlich angenehmer. Jeden Morgen packen wir einen Korb und ernten die Blüten der Königskerzen und der Nachtkerzen. Eine leuchtend goldgelbe Farbenpracht ergibt die Königskerze, die Blüten der Nachtkerzen haben in ihrem Gelb einen leichten Grünstich. Wir, das sind mit mir drei weitere Freiwillige, Serena, eine in Berlin lebende Italienerin, Martina, eine zweite Italienerin, die die Abläufe schon bestens kennt und ein bisschen den Hut aufhat unter den Freiwilligen. Und Guni aus Mühlheim/Ruhr. Guni kommt bereits zum elften Mal auf den Schmiedthof.

Blumendomizil: Die Abendsonne scheint auf den Schmiedthof; im Vordergrund wachsen Ringelblumen.
Blumendomizil: Die Abendsonne scheint auf den Schmiedthof; im Vordergrund wachsen Ringelblumen. | Bild: Wallisch, Roland

Der Hof in absoluter Steillage existiert als Kräuterfarm noch gar nicht so lange. Noch in den 1990er-Jahren war es ein kleiner Bergbauernhof mit vier Milchkühen. Rita Frener betrieb ihn mehr oder weniger allein im Nebenerwerb, denn ihr Mann Engelbert musste als ungelernter, aber handwerklich sehr begabter Arbeiter sein Geld als Kachelofenbauer verdienen. Vier Kinder waren zwischen 1983 und 1991 auf die Welt gekommen. Die Freners bauten neben dem alten Hof ein Wohnhaus. Da wollten Kredite bedient werden, ohne den Lohn für die Kachelofenarbeit ging das nicht.

Als dann die älteste Tochter Magdalena mit 9 Jahren in Brixen ein erstes biologisches Erntefest erlebte, begeisterte sie sich so sehr für einen Stand, an dem Bergkräuter verkauft wurden, dass sie ihre Mutter bekniete, doch auch ins Kräutergeschäft einzusteigen.

Sichelarbeit: Der Spitzwegerich wird geerntet.
Sichelarbeit: Der Spitzwegerich wird geerntet. | Bild: Wallisch, Roland

Davon konnte keine Rede sein, erzählt Rita Frener. Die Kinder, die Kühe, der Haushalt und dann noch Kräuterzucht über den Eigenbedarf hinaus – schlicht nicht möglich. Die Kinder, allen voran Magdalena, aber auch Walburga, Lienhard und Laurenz, ließen nicht locker. Sie gingen in die Natur und sammelten Kräuter. Mit 15 Säckchen bestückten die vier Kinder ihren kleinen Stand beim Biologischen Erntefest 1993, im Jahr drauf. Und schon um halb neun morgens hatten sie alles verkauft. 1994 waren es schon 75 Säckchen. Schafgarbe, Spitzwegerich, Lindenblüten, Quendel hatten sie auf den Wiesen rund um den Hof gesammelt.

Spitzwegerich ist jetzt auch meine Aufgabe. Zehn Quadratmeter darf ich ernten. Es ist in diesem Beet bereits die dritte Ernte. Eine vierte soll es noch geben, weshalb ich die Blätter mit der Sichel abschneide und nicht die ganze Pflanze ausbuddele. Eine Arbeit dicht am Boden, für einen Schreibtischtäter wie mich ungewohnt. Aber mein Rücken, den ich immer wieder wohltuend recke und strecke, ist mir schon nicht mehr so sauer wie am zweiten Tag, als ich acht Farbeimer Unkraut mit der Hacke gejätet habe.

Farbenpracht: Laurenz und Helferin Serena schieben die breite Schublade mit den Calendulablüten in den Trockenschrank
Farbenpracht: Laurenz und Helferin Serena schieben die breite Schublade mit den Calendulablüten in den Trockenschrank | Bild: Wallisch, Roland

1995 begannen die Freners mit dem systematischen Kräuteranbau. Es blieb aber noch eine Nebensache. Bis sich um die Jahrtausendwende die Frage stellte: Kräuter oder Vieh. Rita Frener wählte die Kräuter. Die Kühe gibt es heute nicht mehr, und Rita Frener trauert ihnen auch nicht nach. „Die Kräuter sind nicht so bockig wie die Kühe“, sagt sie. Obwohl sie selbst ein über die Generationen überliefertes Kräuterwissen schon hatte, besuchte sie weitere Lehrgänge. Ihr jüngster Sohn machte eine Lehre als Landschaftsgärtner, hatte mit 23 Jahren schon seinen Meister. Der heute 30-Jährige übernahm den Hof mit 25.

Er beschäftigt mich jetzt als Hilfsschreiner. Ich säge kleine Leisten zu, schleife die Kanten ab. Laurenz schraubt sie dann auf Holzkistchen, die so besser zu stapeln sind. Überhaupt das Holz: Es verbreitet überall diesen angenehmen Duft. Die Räume nicht nur in der Werkstatt, sondern auch in den Wohnräumen für die Freiwilligen Helfer bestehen aus unbehandeltem Holz.

Angenehm duftet es auch bei meiner nächsten Arbeit: Getrocknete Minzzweiglein werden maschinell gerebelt. Ich stehe oben auf der Maschine und fülle sie sukzessive mit den Kräutern. Dabei ist Minze nicht gleich Minze. Römische Minze, Schweizer Minze, Nanaminze und Pampelmusminze duften unterschiedlich. Vor allem die Pampelmusminze verblüfft mich. Sie mischt den Minz- und den Pampelmusduft und ich frage mich, wie findet der Duft dieser Zitrusfrucht nur so markant Eingang in dieses Kraut.

Mit Aussicht: Weit reicht der Blick ins Eisacktal zwischen Brixen und Bozen.
Mit Aussicht: Weit reicht der Blick ins Eisacktal zwischen Brixen und Bozen. | Bild: Wallisch, Roland

Drei Durchgänge braucht die Rebelarbeit. Die Rebelware landet dann auf einem Schüttelsieb und am Schluss gibt es ganz feine Minze, eine etwas gröbere, und die ganz grobe mit den Stängeln, mit der Kräuterkissen gefüllt werden. Die Nanaminze nennt Laurenz auch Hugominze. Sie ist die typische Zutat für das Modegetränk Hugo.

Die Tage sind gut gefüllt mit Arbeit. Abends ziehe ich mich zurück in meinen „Ballsaal“, wie Rita mein Gemach nennt. Es ist ein etwa 50 Quadratmeter großer Raum, Wände, Decke, Böden aus unbehandeltem Holz. Ein Bett steht drin, ein Biertisch und eine Bierbank. Mehr nicht. Wohltuend asketisch. Dort lass ich den Tag Revue passieren, sehr zufrieden über das vollbrachte Tagwerk, sehr sicher, etwas Sinnvolles getan zu haben.

Und gespannt darauf, was der folgende Tag bringen wird. Vielleicht grammgenaues Abwägen und Abfüllen von Kräutertütchen. Vielleicht Schwerarbeit, wenn ich die eiserne Schubkarre den steilen Hang hochschieben muss. Oder Malvenblütenernte. Aber eines wird der neue Tag auf der Kräuterfarm gewiss nicht bringen: die Sehnsucht nach der Arbeit an einer Computertastatur.