Unauffällig macht sich die Gruppe auf in Richtung Meer. Bewaffnet mit Handtuch und Sonnenschirm bewegen sich diese Eroberer in Badehose und Bikini auf den Strand zu. Als sei es das Normalste der Welt, platzieren sie ihre Handtücher zwischen den vom Strandbad bereitgestellten und vermieteten Liegen, stellen den eigenen Sonnenschirm inmitten der verdutzten Gäste des „Stabilimento“ auf.
Die Badegäste reiben sich die Augen. Wer sind diese unverschämten Lümmel, die hier ein jahrzehntelanges Gewohnheitsrecht mit Füßen treten?
Stefano Salvetti, 71, einer der Mitwirkenden jener Blitzaktionen im Namen der Gerechtigkeit, trägt an diesem Sommertag nicht nur Sonnenhut und Handtuch, sondern auch ein ganzes Paket von Fotokopien im Arm. Es sind Gerichtsurteile.
„Ich mache euch fertig“
Seine Aktivisten-Gruppe hat sich einen der schönsten Strände Liguriens für ihre Protestaktion ausgesucht, die Bucht von Paraggi bei Portofino. Die Handtücher und Sonnenschirme sind zwischen den Miet-Liegen platziert. Da kommt auch schon der wütende Strandbad-Betreiber und brüllt: „Ich mache euch fertig!“
Es ist nicht die einzige Aktion der 2019 in der Toskana gegründeten Bewegung „Mare libero“ (freies Meer). Schon den ganzen Sommer über finden italienweit jene Mini-Revolten gegen die Strandanlagen-Besitzer statt. „Wir üben nur unser Recht aus, an den Strand zu gehen“, entgegnen Salvetti und seine Mitstreiter höflich.
„Eure Lizenz ist am 31. Dezember 2023 abgelaufen.“ Salvetti, so erzählt er es wenig später, zückt die Gerichtsurteile. Italiens höchstes Verwaltungsgericht hat es in mehreren Grundsatzurteilen seit 2021 so bestimmt: Die Lizenzen der Strandbadbetreiber sind Ende 2023 abgelaufen. Bleibt die Frage, wer hier eigentlich was widerrechtlich besetzt.
Jahrzehntealtes Dilemma
Das Dilemma um Italiens Strände besteht seit knapp 20 Jahren, und es ist hausgemacht. Der Strand gehört dem Staat und der Staat vergibt Genehmigungen für seine kommerzielle Nutzung.
2006 bestimmte die EU-Richtlinie 2006/123/CE (Bolkestein), dass Dienstleistungen in der EU für einen besseren Wettbewerb liberalisiert werden müssen. Das gilt auch für die rund 26.000 Lizenzen, die der italienische Staat an die Strandbadbetreiber vergeben hat.
Der EU-Richtlinie zufolge hätten längst Neu-Ausschreibungen mit fairen Kriterien für alle Wettbewerber stattfinden müssen. Aber das passierte nie. Die EU-Kommission startete deshalb 2020 ein Strafverfahren gegen Italien.
Später wurden auch Gerichte aktiv. In mehreren Grundsatzurteilen entschied der Consiglio di Stato, das höchste Verwaltungsgericht Italiens, die Genehmigungen seien abgelaufen, Neuausschreibungen nicht mehr aufzuschieben.
Denn das war die Methode der Regierungen in Rom, jedweder Couleur. Obwohl die Neuausschreibung verpflichtend vorgeschrieben war, verlängerten sie die Lizenzen einfach. 2018 war es die Regierung von Giuseppe Conte, die den Anlagen-Betreibern trotz EU-Richtlinie weitere 15 Jahre Rechtssicherheit zugestand.
Die heiße Kartoffel immer weiter gereicht
Auch die Regierungen von Mario Draghi und Giorgia Meloni gaben Aufschub, Meloni zuletzt bis Ende 2024. Illegal, urteilte, der Consiglio di Stato. Die heiße Kartoffel der Neuordnung der Branche wurde von Regierung zu Regierung weiter gereicht.
Die Aktivisten von Mare Libero wollen nachhelfen, ja in gewisser Weise mit ihren symbolischen Aktionen dem Recht zur Durchsetzung verhelfen. „Der Staat müsste die Anlagenbetreiber mit Bußgeldern belegen“, fordert Stefano Salvetti.
Er sitzt jetzt auf einer kleinen Mauer an der Piazza Paradiso in Marina di Carrara, nördliche Toskana. Salvetti will zum Interview lieber nicht in die Bar der Strandanlage gehen. „Die sind gefährlich“, behauptet er.
Hier drängeln sich die Badegäste
Rechts abgezäunte Badeanlagen, auch links Badeanlagen, soweit das Auge reicht, aber für Ende August nur wenige Besucher. Dazwischen, in einem 20 Meter breiten Streifen, drängeln sich die Badegäste auf der „Spiaggia libera“, dem frei benutzbaren Küstenstreifen.
In Ligurien (wegen der Felsküste) und in der Emilia-Romagna mit Badehochburgen wie Rimini sind rund 70 Prozent der Strände per Lizenz vergeben, in der Toskana sind es 52 Prozent.
Hier, am freien Strand haben sich junge Familien, Ausländer, Jugendliche, eher weniger Wohlhabende niedergelassen. Liegen und Schirme muss man hier selbst mitbringen, es gibt ein WC. „Der Strand ist ein öffentliches Gut, er gehört allen, aber nicht alle können sich den Besuch eines Strandbads leisten“, sagt Salvetti.
150 bis 200 Euro Tagesmiete kosten ein Sonnenschirm und zwei Liegen in der exklusiven Bucht von Paraggi bei Portofino. 40 Euro verlangt der Paradise Beach hier nebenan in Marina di Carrara, Parkplatz inklusive. Wer zum Mittagessen im Restaurant bleibt, bekommt noch zehn Euro Rabatt.
15 Milliarden Umsatz
Die 7244 Strandbäder in Italien machen ein Milliardengeschäft, insgesamt setzt die Branche rund 15 Milliarden Euro um. Die Lizenznehmer zahlen nur einen Bruchteil für die Genehmigungen, die oft von Generation zu Generation und zu Spottpreisen weitergegeben wurden. Gerade einmal 115 Millionen Euro streicht der Staat für die Genehmigungen ein.
Kritiker der Strandanlagen-Betreiber sprechen von einer mächtigen Lobby, die da am Werke sei. „In jeder Badeanlage arbeitet mindestens eine Familie, dazu die Angestellten und Stammgäste. Dieses Gemisch hat Einfluss bei Wahlen“, behauptet Stefano Patuanelli, Parlamentarier der Fünf-Sterne-Bewegung.
„Die Branche übt vor allem auf lokaler Ebene viel Druck aus, es gibt da ein undurchsichtiges Geflecht von Wirtschaft und Politik“, meint Stefano Salvetti. Deutlich zu sehen ist dieses Phänomen an Italiens berühmtesten Strandbad, dem Twiga Beach Club im toskanischen Forte dei Marmi, 15 Kilometer südlich von Marina di Carrara.
Auf dem Parkplatz parken hochzylindrige Autos, ein Ferrari, drei Porsche. Wer sich vom Strand nähert, wandelt an Palmen, Giraffen-Statuen und weiträumigen Zelten vorbei, in denen Masseusen ihr eifriges Werk tun. Drinnen gibt es ein großes Restaurant, eine Konzert-Bühne, einen Pool, einen Friseur und Mode-Boutiquen.
Daniela Santanché, Italiens Tourismusministerin höchstpersönlich, war hier bis vor kurzem Anteilseignerin. Als sie 2022 von Meloni in ihr Kabinett berufen wurde, verkaufte sie ihren Anteil in Höhe von 1,7 Millionen – an ihren Lebensgefährten.
Mitbetreiber des Twiga ist der schillernde Ex-Formel-1-Manager Flavio Briatore, der vor ein paar Jahren öffentlich zugab, die 17.619 Euro Pachtgebühr seien etwas niedrig, bei knapp zehn Millionen Euro Jahresumsatz.
Geändert hat sich bislang nichts. Santanché sitzt weiterhin am Ministertisch, der sich um die Frage der Strandbad-Lizenzen kümmern soll. „Kann so jemand wirklich das Interesse der Allgemeinheit vertreten?“, fragt sich Salvetti.
Auch nur Menschen
Die meisten Strandanlagen-Betreiber, für manche derzeit so etwas wie die Buh-Männer einer ganzen Nation, sind allerdings auch nur Menschen. Das merkt man bei einem Besuch bei Massimo Muzzarelli am Strand von Ostia bei Rom.
Muzzarelli, aufgeknöpftes weißes Leinenhemd, im Wind flatterndes Haar, betreibt in zweiter Generation das Strandbad Sporting Beach. „Seit 15 Jahren wissen wir nicht, wie es weitergeht“, sagt der sympathische Lebemann und Vorsitzende der römischen Badeanlagenbetreiber Federbalneari. Das habe Auswirkungen auf Investitionen.

Zweimal schon in diesem Sommer gingen die Strandlizenzinhaber in Streik, wenn auch nur symbolisch. An diesem Donnerstag wollen sie erneut mindestens sechs Stunden lang keine Liegen vermieten.
Mazzarellis Federbalneari nimmt nicht an der Aktion teil, er will die derzeitigen Bemühungen der Regierung Meloni nicht noch komplizierter machen. „Viele von uns haben keine Lust mehr und wollen aufhören“, sagt Mazzarelli.
Tische und Stühle in seinem Restaurant sind gestapelt. Seit Juni ist das Sporting geschlossen, weil die Wellen den Strand förmlich aufgefressen haben. Muzzarelli wartet darauf, dass vor der Küste eine künstliche Barriere aus Felsen gebaut wird.
Vielleicht ist sie in zwei Jahren fertig? Vielleicht gibt es bis dahin auch eine Lösung für de Lizenzen. Die Regierung arbeitet daran, heißt es. Aber man weiß auch, dass Regierungen in Italien keine lange Halbwertszeit haben.