Jan Ilhan Kizilhan (53) lehrt an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen.
Der Professor für transkulturelle psychosomatische Rehabilitation leitete das Sonderprogramm der Landesregierung zur Aufnahme von jesidischen Kriegsopfern.
Herr Kizilhan, Sie haben mit vielen traumatisierten Jesiden gesprochen. Was hat Frau Murad besonders hervorstechen lassen?
Sie ist wie die anderen jesidischen Frauen ein Opfer des IS-Terrors, eine Überlebende. Sie war in Gefangenschaft, hat Folter und Vergewaltigung erleben müssen, die Mehrheit ihrer Familie wurde exekutiert. Damals war sie ängstlich und unsicher. Heute ist sie Friedensnobelpreisträgerin. Nadia wollte von Anfang an für ihr Volk kämpfen, das hat sie damals immer wieder zu mir gesagt. Deshalb hatte ich vorgeschlagen, dass sie zu den Vereinten Nationen (UN) in New York geht und dort spricht. Das hat sie gemacht und dort sehr beeindruckt. Ihre Geschichte hat niemanden unberührt gelassen, viele Menschen dort haben geweint. Kurz darauf wurde sie zur Sonderbotschafterin der UN. Als Opfer des Terrors hat sie es geschafft, zu einer Überlebenden zu werden. Mehr noch: zu einer Aktivistin für Gewaltopfer, die zu Recht den Preis bekommen hat.
Wie haben Sie sie erlebt, als Sie ihr das erste Mal begegnet sind?
2015 war die Terrormiliz IS noch sehr aktiv im Irak und Syrien, weite Teile des Landes waren besetzt. Zum ersten Mal habe ich sie in einem Flüchtlingscamp getroffen. Sie saß in einem Zelt, in dem nichts als ein paar Decken lagen, völlig zusammengekrümmt. Sie weinte immer wieder, während sie ihre Geschichte erzählte. Deshalb habe ich für die Landesregierung entscheiden, dass sie nach Deutschland kommt, weil sie eine Behandlung brauchte. Nadia hat hier versucht, sich zu stabilisieren, wollte aber auch über das Geschehene sprechen, um zu verhindern, dass es in Vergessenheit gerät.
Wie erleben Sie Nadia Murad heute – hat sie sich verändert?
Heute ist sie diese unglaubliche Aktivistin. Trotzdem bleibt sie eine traumatisierte Patientin, die ums Überleben kämpft. Nadia ist heute sehr gefasst. Durch die Auszeichnung bekommt sie das Gefühl, dass ihrem Volk etwas Gerechtigkeit widerfahren ist. Nadia versucht, die Stimme ihres Volkes zu werden. Das ist eine große Bürde, aber auch eine große Motivation: dass die Minderheit endlich Gehör findet und unterstützt wird. Noch ist die Situation im Irak völlig unklar – und oft werden gerade die Minderheiten vergessen – auch die Jesiden und Nadia Murad.
Frau Murad hat viel durchgemacht – trotzdem tritt sie heute als engagierte junge Frau auf. Woher schöpft sie die Kraft für diese Aufgabe?
Nadia kompensiert dadurch auch, weil sie erfährt, dass sie Zuwendung bekommt. Man hört ihr zu und sie erhält Anerkennung für ihre Arbeit.
Was passiert, wenn sich der Trubel um sie legt? Besteht die Gefahr, dass ihr Trauma dann wieder zurückkehrt?
Ich hoffe nicht... Diese Situation hatten wir auch schon, als sie Sonderbotschafterin der UN wurde. Wir müssen Nadia einfach noch mehr unterstützen und begleiten, damit sie auch in Zukunft gesund bleibt.
Wie sehen ihre Zukunftspläne aus?
Sie beginnt, ihren eigenen Weg zu gehen. Nadia hat sich vor kurzem verlobt, möchte heiraten, eine Familie gründen und Kinder bekommen. Sie hat auch ein Buch über ihr Leben geschrieben. Das sind die Dinge, mit denen sie sich in der nächsten Zeit noch intensiver beschäftigen wird.