Am Ende sind es drei von 3.000, die das Reichstagsgebäude in Berlin halten. Sie stellen sich rotwangigen Männern in den Weg, die hinein wollen in das Herz der Demokratie. Schwarz-weiß-rote Flaggen flattern, als das Licht des Tages schon schwächer wird.
Die Polizisten ziehen ihre Schlagstöcke, fuchteln damit herum. Sie schreien. In ihren Gesichtern steht ein wenig Angst und viel Entschlossenheit. Sie wehren die Eindringlinge ab. Der Mut der drei Beamten ist stärker als der Wille der Heranstürmenden.
Die Szenen auf den Treppen des Reichstags sind der hässliche Höhepunkt einer Demonstration gegen die Corona-Politik, die am Samstag rund 40.000 Menschen auf die Straßen der Hauptstadt führte. Aus allen Teilen der Republik sind sie angereist, aus Stuttgart etwa, wo sich die „Initiative Querdenken“ als Veranstalterin verortet.
Auch aus dem Ausland sind Menschen da. Die Hotels der Stadt verbuchen seit langem mal wieder eine gute Auslastung, viele Familien sind unter den Kundgebungsteilnehmer. Sie bewegen sich ein wenig verzagt durch die Häuserschluchten Berlins, viele scheinen das erste Mal auf einer Demo solcher Größe zu sein, wissen nicht, was sie hier erwartet: Eine Kundgebung, die im Laufe des Nachmittags in zwei Teile zerfällt.
Anfangs friedliche Demonstration
Der Spätsommer hat sich schön gemacht für die selbsternannten Kämpfer für die Freiheit. Die Goldelse auf der Siegessäule blinkt und prangt im Licht der Sonnenstrahlen, als sich zu ihren Füßen Tausende versammeln. Es ist warm, aber nicht heiß, die Polizei liebt so ein Wetter nicht. Bei Regen kommen erfahrungsgemäß weniger Menschen – und sie gehen schneller wieder.
Aber so schlendern auf der Straße des 17. Juni höfliche, rücksichtsvolle Bürgerinnen und Bürger, die Zeit haben. Ob sie alle wissen, dass die Straße ihren Namen nach dem Freiheitskampf vergangener Zeiten trägt? Einige haben Blumen im Rucksack. Wenn sie lächeln, ist es für jeden zu sehen, denn kein Stück Stoff verhüllt den Mund.
Sie laufen in losen Gruppen oder im Zug. Rechts und links das Grün des Tiergartens. Es wird eifrig diskutiert. Aus Lautsprechern ertönt Musik, aber nicht so laut, dass man sich nicht mehr unterhalten kann. „Freiheit“ von Marius Müller-Westernhagen wird gespielt. „Frei-heit, Frei-heit, wurde wieder abbestellt.“
Sie sind gekommen, um die Bereitschaft des Staates zu testen, seine Regeln gegen eine Seuche durchzusetzen. Die Veranstalter wollen später wissen, dass mehr als eine Million Teilnehmer da sind. Aber wer schon Demos in Berlin mitgemacht oder die Heerscharen auf der Fanmeile gesehen hat, der weiß, dass nicht stimmen kann.
Bizarre Mischung aus Teilnehmern
Gekommen sind Junge und Alte, Familien mit Kindern, Hippies. Die Wandervogel-Jugend mit Klampfe tritt auf und sogar der Neffe von John F. Kennedy ist da. Jedenfalls behauptet er das von sich. Es sind tiefgläubige Christen gekommen, die Jesus unter den Menschen wähnen. Es sind selbsterklärte Querdenker, wie auf ihren T-Shirts zu lesen ist. Es sind Leute, die davon überzeugt sind, dass Präsidenten, Kanzler und Staatschefs einen internationalen Kinderhändlerring bilden.
Einige erklären bereitwillig, was sie auf die Demo führt und warum sie keine Masken tragen wollen. Andere wollen nicht mit der Presse reden, weil die ohnehin nur lügt. Sie sind nicht aggressiv, aber angespannt. Vom Gewaltpotenzial der 1.-Mai-Demos ist das hier weit entfernt, Beobachter fühlen sich von der Atmosphäre her eher an die Proteste beim Besuch des damaligen US-Präsidenten George W. Bush 2002 in Berlin erinnert.
Das unsichtbare Virus, das sie für ungefährlich oder nicht-existent ist, hält sie alle im Griff. Der Erreger ist nicht das einzige, was auf ihnen lastet. Da ist die Angst davor, dass eine Hyperinflation das Ersparte zunichtemacht. Andere fürchten sich vor einem Impfzwang und werfen der Pharmalobby vor, es gehe hier nur um ein Milliardengeschäft. Wieder andere sind davon überzeugt, dass Deutschland nur eine GmbH sei und sie diese Ordnung nicht anerkennen müssen. Sie sehen sich als Bürger des Deutschen Reiches, das in Wahrheit nie untergegangen sei.

Diese eigentümliche, irritierende Allianz schreitet Seite an Seite mit beinharten Neo-Nazis, die schwarz-weiß-rote Fahnen wehen lassen. Die kurzgeschorenen Wirrköpfe wiederum laufen gemeinsam mit einem Pulk Holländer in Orange. Dazwischen sind Hooligans mit Russlandfahnen zu sehen. Niemanden scheint sich an der Kollision der Weltbilder zu stören. Die „Nazis raus“-Rufe kommen von einer Gegenkundgebung weiter weg. Hier jedoch fordert keiner die Rechten auf, sich zu entfernen.
Polizei greift zunächst nicht ein
Die Staatsmacht beobachtet das Geschehen von der Seitenlinie aus. In unregelmäßigen Abständen stehen Grüppchen gepanzerter Polizisten am Rande der Straße des 17. Juni. Rund 3000 Beamtinnen und Beamte hat der Berliner Senat aufgeboten. Ein paar Hundert Polizisten kommen aus anderen Bundesländern, auf der Spree soll sogar ein Boot der Wasserschutzpolizei aus Hessen schippern.
Der Polizeihubschrauber knattert im blauen Himmel. Wasserwerfer, Spreizzangen und anderes schweres Gerät stehen bereit. Die Gesichter der Polizisten sind nicht leicht zu lesen, denn sie tragen eine Maske.
Die Behörden hatten die Demonstration zunächst verboten weil sie annahm, dass die Masken- und Abstandspflicht nicht eingehalten wird. So, wie es schon bei der ersten Anti-Corona-Demo vor vier Wochen in Berlin der Fall war. Doch sie unterlagen vor Gericht, und so dürfen die Demonstranten zusammenströmen unter der Auflage, Münder und Nasen zu bedecken und Abstand zu halten.
Die Einsatzleitung entscheidet sich dafür, nicht zu eskalieren. Aus gutem Grund. Denn die Polizisten sind trotz des Großaufgebots von Beginn an in der unterlegenen Position. Sie müssen einerseits den Corona-Regeln in Zeiten steigender Infektionen Geltung verschaffen, andererseits ist es nur schwer mit der Verhältnismäßigkeit vereinbar, Zehntausende mit Gewalt von der Straßen zu treiben, weil sie ihr Gesicht nicht verbergen.
Kleinere Scharmützel bis hin zur Eskalation
Gleichwohl wird mit zunehmender Dauer Stärke demonstriert. Helme werden aufgesetzt, die Lautsprecherdurchsagen dringlicher, Wasserwerfer für einsatzbereit erklärt und Schnellboote über Spree und Landwehrkanal gejagt. Bis zur Dämmerung bleibt es bei Scharmützeln mit dem kleinen, aggressiven Teil der Virus-Leugner.
Es fliegen vereinzelt Flaschen und Steine, Gewaltbereite werden abgeführt. Innensenator Andreas Geisel (SPD) wird später berichten, dass rund 300 Menschen festgenommen wurden. Unter ihnen der Verschwörungstheoretiker Attila Hildmann.

Ein Demonstrationszug Unter den Linden wird aufgelöst, weil keiner Maske trägt. Auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude springen plötzlich die Rasensprenger an, um Demonstranten zu vertreiben, die Absperrungen überwinden. „Öffnet die Tore“, rufen sie Richtung Parlament gewandt, Hildmann hat die Menge angeheizt.
Dann gelingt es Demonstranten mit schwarz-weiß-roten Reichsflaggen doch noch, auf die Treppe des Deutschen Bundestages zu stürmen. Zunächst stellen sich ihnen nur wenige Polizisten in den Weg, wie ein im Netz kursierendes Video zeigt. Die Schein-Stärke der Polizei wird hier erschreckend deutlich. Am Ende drängen Beamte die Menschen zurück, wobei es zu Rangeleien kommt.
Fassungsloser Außenminister
Außenminister Heiko Maas (SPD) twittert: „Reichsflaggen vorm Parlament sind beschämend.“ Der CDU-Bundestagabgeordnete Felix Schreiner zeigt sich angesichts der Szenen fassungslos. „Demokratie muss verschiedene Meinungen aushalten: und das hält sie auch aus. Reichsfahnen vor dem Parlament gehören aber sicher nicht dazu“, sagt er.
Auch vor der russischen Botschaft kommt es am Abend zu heftigeren Auseinandersetzungen, sieben Polizisten werden verletzt und bis zum Abend wird klar: Die Staatsmacht schafft es nicht, den Virenschutz durchzusetzen. Der Menschenzug zieht einfach weiter Richtung Siegessäule zur Abschlusskundgebung. Das Virus kennt keine Juristerei. Ihm ist es gleich, ob sich eine Menschenschlange als angemeldete Demonstration voranschiebt oder als Zusammenkunft Zehntausender.
Die Energie der Demonstranten allerdings lässt deutlich nach. Viele drehen ab Richtung Hauptbahnhof und machen sich auf den Weg nach Hause. Zu Ausschreitungen kommt es nicht mehr, die Anti-Corona-Demo verflüchtigt sich.
Der Morgen danach
Am Morgen danach beseitigen Menschen und Maschinen der Berliner Stadtreinigung den Müll auf der Straße, die Polizei räumt Absperrgitter zur Seite, ein Filmteam dreht in Höhe des Kanzleramtes und nervt die Autofahrer. Berlin wird wieder normal.
Vor der niedersächsischen Landesvertretung drücken Eltern und Großeltern einem kleinen Kind ein Demo-Schild in die Hand und fotografieren das sichtlich überforderte Mädchen damit. „Wiederstand“ steht auf dem Schild, mit einem falschen „ie“. Soll womöglich lustig sein. Vielleicht ist es auch ernst gemeint und sie wissen es nicht anders. Womit die Szene ganz gut für dieses Anti-Corona-Wochenende in der Hauptstadt stehen würde.