Was passiert, wenn die Schweiz das Rahmenabkommen mit der EU endgültig ablehnt? Im April reiste der Schweizer Bundespräsident Guy Parmelin nach Brüssel. Das Ergebnis der Runde mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war ernüchternd. Man ist sich einig, dass man sich nicht einig ist. Die Schweiz will drei wunde Punkte ganz aus dem Vertrag streichen, die EU kann darauf nicht eingehen, wenn sie das Prinzip der gleichen Regeln für alle im Binnenmarkt aufrechterhalten will.

Drei kritische Punkte

Der geplante Rahmenvertrag soll nicht nur die bisherigen mehr als 120 Einzelverträge bündeln, sondern auch eine sogenannte dynamische Rechtsanpassung beinhalten, so dass veränderte Regeln im EU-Binnenmarkt von der Schweiz übernommen werden. In der Schweiz wird dieser Punkt gerne so dargestellt, als habe die Schweiz keine Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. Tatsächlich könnte Bern hier ein Schlichtungsverfahren einleiten oder aber alternative, gleichwertige Regelungen einrichten.

In Bern stehen vor allem drei Punkte in der Kritik: Es geht um die Kontrolle von staatlichen Beihilfen, den Schutz der hohen Schweizer Löhne und die Personenfreizügigkeit. Am liebsten würde man sie einfach aus dem Vertrag streichen. Genau das forderte Parmelin in Brüssel nach der Darstellung der Kommission. Die EU hatte dagegen schon länger eine Klarstellung angeboten – ein Entgegenkommen an die Schweiz.

Enge wirtschaftliche Beziehungen

Dabei steht für die Schweiz viel auf dem Spiel. Kein anderes Land profitiert so sehr vom EU-Binnenmarkt wie die Alpenrepublik, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung belegte. Das Handelsvolumen der Schweiz mit der EU beläuft sich auf fast 60 Prozent des Schweizer Warenvolumens.

Schon der Handel mit Baden-Württemberg und Bayern ist größer als das Handelsvolumen mit China, zwischen der Schweiz und Baden-Württemberg allein umfasst er etwa 30 Milliarden Euro. So steht auch für die Grenzregionen viel auf dem Spiel: Pendlerarbeitsplätze, Handel und Verkehr könnten massiv beeinträchtigt werden.

Gleiche Regeln für alle

Trotzdem sieht sich die EU in der stärkeren Verhandlungsposition. Der CDU-Europaabgeordnete Andreas Schwab hat für die Schweizer Verzögerungstaktik allerdings keinen Nerv mehr: „Ich befürchte, dass der Schweizer Bundesrat noch immer glaubt, die EU sei keine Wertegemeinschaft, sondern ein Zweckbündnis, dessen einzige Aufgabe darin besteht, Schweizer Wünsche zu verstehen.“

Die EU wisse, „dass wir immer Nachbarn sein werden, und dass deshalb Verständigung notwendig ist. Unsere Regeln können wir jedoch nicht wegen der Schweiz als Drittland ändern“, so Schwab. Schon beim Brexit machte die EU klar, dass der Zugang für Drittländer zum Binnenmarkt nicht verschenkt wird. Die Bereitschaft Brüssels, das Rahmenabkommen noch einmal aufzuschnüren, ist entsprechend gering.

Das sieht inzwischen offenbar auch die Schweizer Wirtschaft so: Ende April wandten sich die Industrie- und Handelskammern von 25 der 26 Kantone in einem Brief an den Bundesrat: „Wir rufen den Bundesrat auf, die Klärungen mit der EU rasch abzuschließen und das Abkommen dem Parlament vorzulegen“, heißt es darin. Andernfalls erodierten bestehende Abkommen, der Zugang zum europäischen Markt würde erschwert.

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Eine Umfrage des Forschungsinstituts gfs.bern von Anfang Mai hat ergeben, dass das Abkommen nicht so negativ gesehen wird wie von der Politik befürchtet. Im Gegenteil. 64 Prozent würden demnach mit Ja oder eher Ja stimmen, wenn es eine Volksabstimmung zu dem Rahmenabkommen gäbe.

Doch in Bern zögert man. Ob und wann die Gespräche mit Brüssel fortgesetzt werden, ist offen. Die Tür stehe offen für Gespräche, heißt es dort.

Folgen der Verzögerungstaktik

Für die Schweiz hat die Verzögerungstaktik aber noch weitere Nachteile. Denn die EU hat bislang klar gemacht: So lange das Rahmenabkommen nicht unterzeichnet wird, werden bestehende Verträge nicht erneuert. Neue Marktzugänge werden der Schweiz ohne Rahmenabkommen verwehrt, so etwa der begehrte Strommarkt. Hinzu kommt, dass die EU die Schweiz künftig aus den beiden Forschungs- und Bildungsprogrammen, Horizon und Erasmus, ausschließen könnte.

Schon im Juli 2019 bekam die Schweiz die Folgen dieser Taktik zu spüren. Damals lief die sogenannte Börsenäquivalenz aus, wodurch die EU die Schweizer Börse formal als gleichwertig anerkannte. Damit können EU-Firmen keine Schweizer Wertpapiere mehr handeln. Die Botschaft aus Brüssel, damals noch unter der Leitung von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, war klar: Wir machen dieses Spiel nicht ewig mit. Die Schweiz reagierte mit einer Schutzmaßnahme, die EU-Firmen den Handel mit Schweizer Aktien weiter ermöglicht.

Verträge müssten dringend aktualisiert werden

Demnächst laufen weitere wichtige Handelsverträge mit der EU aus. Das Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Medizinprodukten, das der Schweiz den Zugang zum gesamten europäischen Markt ermöglicht, endet am 26. Mai.

Das könnte die Schweiz hart treffen. Sie exportiert 46 Prozent ihrer medizinischen Geräte in die EU und importiert 52 Prozent. Die EU hingegen importiert nur zehn Prozent von der Schweiz und exportiert nur fünf Prozent dorthin.

Weil aber auch die EU ein Interesse an einem reibungslosen Handel hat, steht derzeit eine Übergangsfrist bis 2024 im Raum. Zu einer Einigung kam es bislang aber auch hier nicht.

Nun hat die Schweiz ihrerseits eine Übergangsfrist für EU-Hersteller eingerichtet: Ohne die Erleichterungen der bisherigen Bestimmungen müssten Hersteller aus der EU ab 26. Mai andernfalls unter anderem einen Bevollmächtigten in der Schweiz ernennen und die Produkte mit seinen Angaben kennzeichnen. Die Maßnahmen des Bundesrates sehen Übergangsfristen vor, welche der Industrie hierfür mehr Zeit gewähren. So will die Schweiz die Versorgung mit wichtigen Medizinprodukten sicherstellen.

Einige Unternehmen haben ob der Unsicherheit aber bereits EU-Außenstellen gegründet, um die Zulassung ihrer Produkte für den Binnenmarkt zu gewährleisten. Für Schweizer Unternehmen ohne EU-Außenstellen rechnet die Branche allerdings mit erheblichen Mehrkosten. Denn: Für neue Medizinprodukte gelten die Regeln für Drittländer mit entsprechend aufwendigen Zulassungsverfahren.

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Die Industrie- und Handelskammer Hochrhein-Bodensee warnt auf SÜDKURIER-Anfrage: Es sei eine ähnliche Entwicklung wie beim Brexit zu erwarten, die einzelnen Normen driften auseinander. Die Schweiz werde im Bereich der Medizinprodukte weniger Probleme haben „als kleine und mittelständische Unternehmen bei uns“, erklärt IHK-Experte Uwe Böhm: „Die Schweizer Unternehmen sind schon immer sehr international aufgestellt und prüfen oft schon in der EU, da dies einen großen Markt darstellt.“ Umgekehrt sei es für kleine und mittelständische EU-Unternehmen „aufwändig, extra eine Schweizer Zulassung mit hohen Kosten zu erwirken. Das dürfte sich zukünftig auch im Bereich Maschinenbau fortsetzen“, so Böhm.

Auch im Luftverkehr werden häufig die Regeln angepasst. Wo immer das geschieht, wäre die Schweiz dann nicht mehr EU-konform. Schon jetzt gibt es wegen veralteter Verträge Diskrepanzen, etwa beim Lebensmittelexport. Je länger das Tauziehen dauert, desto größer werden sie.