Die Idylle ist nahezu perfekt. Ein Dorf in Mitten des Schwarzwaldes. Weidelandschaften, Bauernhöfe, Kühe. Das örtliche Wirtshaus hat Betriebsferien, die Gaststätte ein paar hundert Meter weiter nur freitags und am Wochenende geöffnet. Unter der Woche rechnet man offenbar nicht mit Gästen. Ein einsamer Wanderer sucht vergebens nach einer Möglichkeit zur Einkehr. Das Dorf ist umgeben vom weitläufigen Hotzenwald, eingebettet in eine malerische Hügellandschaft, die an diesem Morgen mit Sonne und blauem Himmel dem Bilderbuch zu entspringen scheint. Wären da nicht die vielen Polizeikastenwägen vor dem Gemeindehaus. Ein weißer Kombi steht in einer Kurve geparkt, ein Mann und eine Frau sitzen darin, beobachten die Straße. So etwas fällt auf in dem kleinen Dorf, wo sonst kaum Menschen unterwegs sind. Besonders an diesem Morgen, als ein eisiger Wind über die Straßen pfeift.

Kurz zuvor war ein Mann mit Mund-Nasen-Schutz, von Personenschützern umringt, aus der Tür eines Hauses getreten und schnell in eine von zwei großen schwarzen Limousinen gestiegen. Gerade sind die beiden Wagen aus dem Dorf gefahren, Männer mit Mund-Nasen-Schutz saßen darin, die Scheiben seitlich schwarz getönt. Unter anderem SÜDKURIER-Mitarbeiter Peter Koch beobachtet ihn dabei. Spätestens jetzt ist klar: Alexej Nawalny ist wirklich hier. Vor vier Tagen hat er sich den Informationen des SÜDKURIER zufolge in einer Ferienwohnung eingemietet.
Das Gemeindehaus wurde seither kurzerhand zur Einsatzzentrale der Polizei eingerichtet. Immer wieder gehen Männer und Frauen in Zivil, mit kleinen durchsichtigen Kabeln am Ohr, ein und aus. Polizisten springen aus den Kastenwägen, sobald sich jemand nähert. Sie wollen Ausweise sehen, wissen, was man hier tut. Im Nachbarort stehen weitere Einsatzfahrzeuge an der Gemeindehalle von Ibach.
Aufruhr im Schwarzwaldidyll
Ibach ist diesen Aufruhr nicht gewöhnt. In dem 360-Seelen-Dörfchen ticken die Uhren noch ein wenig anders. Mobiles Internet erwartet man hier ja gar nicht, Empfang hat man ohnehin nicht. Wenn jemand verraten will, dass Nawalny hier ist, braucht er ein Festnetz-Telefon. Ibach wartet noch auf seinen Glasfaserausbau. Bis dahin muss die Mund-zu-Mund-Propaganda reichen, scheint es. Doch dass der Kremlkritiker sich hier aufhält, weiß trotzdem fast jeder.

Nawalnys Bilder gingen um die Welt, nachdem er in der Charité aufgenommen und behandelt wurde. Dass er im August Opfer eines Giftanschlags wurde, hat selbst die Organisation für das Verbot chemischer Waffen inzwischen zweifelsfrei bestätigt. Auf einem Flug vom sibirischen Tomsk nach Moskau war er zusammengebrochen, schließlich wurde er zur Behandlung nach Berlin geflogen, lag im künstlichen Koma. Inzwischen wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und steht seither unter Personenschutz. Dass er nun ausgerechnet im kleinen Ibach wieder auf die Beine kommen will, hätte wohl niemand gedacht.
Doch schon am Samstag war es im Dorf nach Angaben einer Einwohnerin unruhig geworden. Menschen mit Hunden seien umhergelaufen, alles wurde abgesucht, bevor offenbar am Sonntag der berühmte Gast eintraf.

Eine Bäuerin, die auf einer Weide unweit vom Gemeindehaus einen Unterstand ausmistet, hebt dagegen abwehrend die Hände: „Ich will mich nicht dazu äußern, sagt sie. Ein Esel kommt neugierig an den Zaun, die Frau selbst hält Abstand. „Wer hat da nur geredet“, fragt sie sich: „Wir wollen hier unsere Ruhe.“ Sie sei jedenfalls nicht glücklich darüber, „dass es raus ist“. Dann macht sie kehrt und widmet sich wieder ihrem Misthaufen.
Polizeieinsatz am Waldrand
Doch mit der Ruhe ist an diesem Mittag nicht weit her. Eine Drohne surrt über das Dorf, kreist unweit von dem Haus, das nun zeitweise als Unterkunft für Wladimir Putins wohl schärfsten Kritiker dient. Eilig spurten Polizisten in Kastenwagen, rasen den Hügel hinauf, Richtung Wald. In der Kurve hält der Wagen abrupt an, mehrere Beamte lehnen sich aus dem Fahrzeug, blicken in den Himmel. Ein Funkspruch ist aus einem offen Wagen zu hören, ... „über dem Waldgebiet“ sagt ein Beamte, bevor die Schiebetür ins Schloss fällt und der Wagen davonbraust. Ein Polizeifahrzeug fährt mit einem Anhänger durch, auf dem eine Art Geländebuggy transportiert wird. Etwa 30 Minuten später kehren die Fahrzeuge nach und nach zurück – die Gefahr ist offenbar gebannt.
Warum ausgerechnet Ibach? Eigentlich keine Frage. Es drängen sich gleich mehrere Gründe auf, weshalb Nawalny hier Zuflucht sucht:
Als der ehrenamtliche Bürgermeister eintrifft, wird er sofort von zwei Fernsehteams und ein paar Reportern umringt. Helmut Kaiser gibt sich Mühe, dem verhältnismäßig großen Medienrummel um das kleine Dörfchen gerecht zu werden. „Es ging alles so schnell“, sagt Kaiser, offensichtlich selbst noch etwas überrumpelt von der Situation. Der ehrenamtliche Bürgermeister bestätigt: „Wir haben hier in Ibach eine Person, die sehr hohen Personenschutz hat. Der macht hier Urlaub mit seiner Familie.“
Warum ausgerechnet hier, mitten im Schwarzwald, in einem winzigen Dörfchen? „Das sehen Sie alle, es ist schön hier, Ibach hat einen hohen Erholungswert.“ Er werde wohl „eine geraume Zeit“ da sein. Ob er bestätigen könne, dass es sich um Nawalny handele? Aus Personen- und Datenschutzgründen könne er das nicht, sagt Kaiser. Doch dann: „Presseberichten zufolge handelt es sich um Nawalny.“

Eine der Nachbarn zu Nawalnys Unterkunft, deren Namen dem SÜDKURIER bekannt ist, sagt: „Ich habe Verständnis dafür, dass er da ist. Man sollte den Mann aber in Ruhe lassen“, fordert sie. Die Frau lebt seit 15 Jahren in dem Ort. Dass Nawalny nun hier sei, beeinträchtige weder ihren Alltag, noch sei sie dadurch verängstigt.
Der Bürgermeister kündigte an, er wolle seine Bürger noch am Mittwoch offiziell informieren und um Verständnis für den ungewöhnlichen Gast werben. Es seien besorgte Anrufe von Bürgern eingegangen. Offenbar gibt es auch Menschen, die den neuen Gast nicht ganz so herzlich willkommen heißen wie der Bürgermeister des Dörfchens. „Manche haben gesagt: Das geht doch nicht, dagegen müssen wir auf die Straße!“, erzählt die Nachbarin. Sie aber habe nichts gegen den Kremlkritiker. „Er sollte in Sicherheit sein, zu sich kommen können.“
Für die Gemeinde selbst bringt der Besuch durchaus gewisse Einschränkungen mit sich. Wie der Bürgermeister berichtet, hat die Polizei sowohl den Sitzungssaal des Rathauses, als auch die Gemeindehalle als Hauptquartier in Beschlag genommen. Letzteres bedeutet einen Eingriff ins Vereinsleben, das ihm als Bürgermeister sehr am Herzen läge, so Kaiser. Für den Musikverein sucht man gerade einen Proberaumersatz. Wer nicht orts
Einwohner reagieren gelassen
Ein Schreiner, der gerade in seinen Lieferwagen steigen will, nickt schon, als man ihn anspricht: „Ja, das haben wir natürlich gehört, dass Nawalny hier ist.“ Er finde es gut, sagt er. Der Mann solle sich erholen, er brauche nun Ruhe, findet der Handwerker. „Aber Urlaub würde ich das nicht nennen“, sagt er. Nawalny müsse erst einmal den Anschlag verkraften, meint der Mann, bevor er zu seinem Wagen zurückgeht.
Wie lange der Gast bleibt, ist ungewiss. Das Polizeipräsidium Freiburg und das Landesinnenministerium bestätigt derweil nichts dergleichen. Umfangreiche Schutzmaßnahmen seien für die Person, die sich derzeit in Baden-Württemberg aufhalte, in Gang. Das Präsidium arbeite mit anderen Dienststellen der Landespolizei zusammen, ergänzt der Sprecher. Wie viele Beamten im Einsatz sind, hier im kleinen Ibach, darf er nicht sagen. Noch, wie lange sie im Einsatz sein werden.
Eine Anwohnerin schätzt, es seien etwa hundert Beamten im Wechsel im Einsatz. „Die Einwohnerzahl von Ibach ist jedenfalls ganz schön gestiegen“, sagt sie und lacht. Die Polizei sei unüberhörbar, den ganzen Tag führen sie auf und ab, die Sicherheitsleute liefen auch nachts umher, „das Gemeindehaus steht plötzlich unter Festbeleuchtung.“ Doch sie stört sich nicht an dem berühmten Besuch: „Wir werden uns wohl gewöhnen, wie man so hört, wird er ja eine Weile bleiben.“ Im Dorf erzählt man sich, es sei von sieben Wochen die Rede.