Das politische Berlin war noch nie ein Hort von Konsens und Harmonie. Zu Ostern 2022 aber schien das Ausmaß von Desorientierung und Verwirrung eine neue Eskalationsstufe erreicht zu haben. Mehr oder minder offenes Geholze in der Ampel-Koalition, ein Bundeskanzler, bei dem inzwischen nur noch schwer zwischen Zurückhaltung und Hilflosigkeit zu unterscheiden ist, angeschlagene oder bereits ausgewechselte Amtsträger für Gesundheit, Verteidigung oder Familie: Die Zeiten des Krieges in Europa haben die fragile Konstruktion dieser Bundesregierung weiter erschüttert.
Natürlich ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht die Schuld der Ampel-Koalition in Berlin. Aber er zwingt sie zu Entscheidungen, deren Härte und mögliche Konsequenzen ihre inneren Widersprüche aufbrechen lassen.

Wenn ein grüner Fundamentalist wie der Europaausschuss-Vorsitzende Anton Hofreiter nach sofortiger Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ruft, steht die Welt der Grünen auf dem Kopf. Wenn ein Finanzminister der FDP alle Chancen hat, als Schuldenkönig in die Geschichte der Bundesrepublik einzugehen, verrutscht das liberale Wertesystem. Und der Kosmos der traditionellen Russland-Politik der SPD ist bereits vollständig zusammengebrochen.
Taktische Manöver und Tricksereien
Der gewaltige Problemdruck durch Krieg und Pandemie wäre gewiss auch für jede anders geführte und zusammengesetzte Bundesregierung nicht geringer. Aber die Ampel simuliert schon nach einem halben Jahr Entscheidungs- und Mehrheitsfähigkeit immer häufiger durch taktische Manöver und parlamentarische Tricksereien.
Beim Debakel um eine allgemeine Impfpflicht war das kaum zu übersehen, beim „Sondervermögen“ zur Instandsetzung der Bundeswehr droht ähnliches. Selbst wenn man dem Bundeskanzler als dem politisch Hauptverantwortlichen Vorsicht und kluges Abwägen unter dem Diktat der selbst verkündeten „Zeitenwende“ unterstellt: Die eher überzeugenden und konsequenten Auftritte der grünen Minister Habeck und Baerbock erzeugen ständig einen deutlichen Kontrast zu Olaf Scholz und seinen SPD-Ministern. Die wirken getrieben, nicht gestaltend.
Es gibt diese alte Volksweisheit: In Gefahr und in der Not bringt der Mittelweg den Tod. Die Deutschen scheinen zunehmend zu spüren, dass Zögerlichkeit und Beschäftigung mit sich selbst nicht die angemessenen politischen Rezepte für beinharte Krisen sind. Das gilt besonders unter den Bedingungen eines Krieges in der Nachbarschaft.
Ein bisschen Krieg gibt es nicht
Fragen von Krieg und Frieden wirken in der Politik von jeher wie ein Katalysator, der etwas in seine Einzelteile zerlegt. Ein bisschen Frieden gibt es genauso wenig wie ein bisschen Krieg. Konkret heißt dies: Wenn wir überzeugt sind, dass die Ukrainer ihr Land auch für uns und unsere westlichen Werte verteidigen, dann geben wir ihnen alles, was sie dazu brauchen!
Umfragen zeigen, dass die Zufriedenheit mit Kanzler und Bundesregierung schnell sinkt. Das Ansehen Deutschlands in Europa und der Welt hat bereits schweren Schaden genommen. Schwerfällig, entscheidungsschwach, egoistisch: Ist die Bundesrepublik Deutschland, wie schon einmal vor zwanzig Jahren, wieder „der kranke Mann Europas“?
Der Autor war stellvertretender Chefredakteur dieser Zeitung und arbeitete zuletzt als Sprecher des Bundestags.