Was die Größe des Bundestags betrifft, ist Deutschland Weltspitze. Keine Demokratie auf dem Globus leistet sich ein größeres Parlament. 736 Abgeordnete sitzen unter der Glaskuppel des Reichstagsgebäudes – noch. Denn die Ampelkoalition holt nach, wozu sich die Regierung Angela Merkels in 16 Jahren nie durchringen konnte: Sie verkleinert den Bundestag.
Wird in Karlsruhe bestätigt, was der Bundestag am Freitag beschlossen hat, gilt künftig eine Obergrenze von 630 Parlamentariern. Eine gute Entscheidung, wären da nicht Risiken und Nebenwirkungen, die sich nicht vom Tisch wischen lassen.
Größer ist nicht besser
Unstrittig ist, dass der Bundestag eine Abspeck-Kur braucht. Mehr Abgeordnete bedeuten keineswegs mehr Demokratie – sonst wäre Chinas monströser 3000-Sitze-Kongress ein Paradebeispiel für die Herrschaft des Volkes. Seit zwei Jahrzehnten wächst der Bundestag, als gäbe es kein Morgen. Die Parlamentsarbeit wird dadurch nur schwieriger und schwerfälliger: Je mehr Leute mitmischen, desto zäher fallen die Beschlüsse.
Den Wählern ebenso schwer zu erklären sind die Kosten. 1,1 Milliarden Euro gibt Deutschland in diesem Jahr für sein Parlament aus, doppelt so viel wie im Jahr 2005. Nicht nur die Zahl der Abgeordneten wächst, sondern ebenso das Heer der Referenten, Mitarbeiter, Büroleiter, Assistenten, Fahrer – und alle wollen bezahlt sein.

Es ist den drei Koalitionspartnern hoch anzurechnen, dass sie damit Schluss machen, obwohl die Reform auch in den eigenen Reihen Jobs kosten wird. Nicht in Ordnung ist, dass es die einen mehr, die anderen weniger trifft. Das neue Wahlrecht hält die Blessuren bei den Ampelparteien in Grenzen. Umso tiefer schneidet es wegen der wegfallenden Überhangmandate der Union und der Linken ins Fleisch.
Wer bei Bundestagswahlen traditionell viele Direktkandidaten durchkriegt, hat künftig Pech – so wie die CSU in Bayern, aber auch die CDU in Baden-Württemberg. Anders als bisher werden altgediente Platzhirsche nicht mehr automatisch in den Bundestag einziehen, selbst wenn sie in ihrem Wahlkreis auf Platz eins landen. Stattdessen jubelt der Zweitplatzierte, weil seine Partei ihn auf einen sicheren Listenplatz gesetzt hat.

Ist das demokratisch? Bei aller Berechtigung des Wunsches nach einem kleineren Parlament: Die Bedenken, wie CSU und Linke sie vortragen, sind nachvollziehbar. Sie sind die Verlierer des neuen Wahlrechts. Die CSU hat bei der Bundestagswahl 2021 in Bayern 45 von 46 Direktmandaten geholt. Tritt die Neuregelung wie beschlossen in Kraft, bleiben elf dieser Erststimmen-Könige in Zukunft zu Hause.
Noch härter trifft es die Linke. Sie profitierte bisher von einer Klausel, die Parteien den Einzug in den Bundestag garantiert, auch wenn sie die Fünf-Prozent-Hürde verfehlen – vorausgesetzt, sie erringen mindestens drei Direktmandate. Deshalb sitzt die Linke mit 39 Abgeordneten im Bundestag. Künftig wären es drei. Kein Wunder, dass die Fraktion tobt und den Ampelparteien vorwirft, sie wolle mittels Wahltricks eine ungeliebte Oppositionspartei ausschalten.
Die Reform startet somit unter dem fatalen Verdacht, dass sie den Wählerwillen verzerrt. Für die Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie ist dies nicht weniger schädlich als ein aufgeblasenes XXL-Parlament. Vor diesem Hintergrund verwundert es schon, dass die Regierungsparteien nicht den sicheren Weg gehen und die Zahl der Wahlkreise massiv reduzieren. Würde die Zahl der Direktmandate um ein Drittel auf 200 verringert, könnten alle übrigen Regelungen bleiben, wie sie sind.
Wer braucht vier Abgeordnete?
Aber dann fehlt es an Bürgernähe, tönt es aus allen Richtungen. Kein Politiker kann in einem solchen Riesen-Wahlkreis den Kontakt zu Rathaus, Feuerwehr und Vereinswelt halten. Wirklich? In Zeiten von Homeoffice, Videokonferenzen und sozialen Netzwerken ist das Argument von gestern. Als der Bundestag noch seine reguläre Größe hatte, war ein Abgeordneter pro Wahlkreis der Normalfall. Heute ist das die Ausnahme.
Der Wahlkreis Konstanz ist in Berlin mit drei Abgeordneten vertreten, der Wahlkreis Ravensburg, den es bis 2009 gar nicht gab, sogar mit vier. Die Wahlkreise Schwarzwald-Baar, Waldshut, Bodensee und Zollernalb-Sigmaringen bringen es auf jeweils zwei Abgeordnete. Darunter geht inzwischen nichts mehr.

Die Demokratie kommt mit weniger klar, ohne Schaden zu nehmen. Eine Regelung, mit der alle Fraktionen zufrieden sind, wird es ohnehin nie geben. Und so entscheidet am Ende wohl das Bundesverfassungsgericht.
Noch wichtiger als der Segen der Verfassungshüter ist der Rückhalt der Bürger: Nur wenn sie am Wahltag aus dem Haus gehen, um ihr Kreuz zu machen, kann das parlamentarische System funktionieren. Voraussetzung dafür ist ein Wahlrecht, das alle verstehen und das alle akzeptieren. Abspecken allein reicht nicht.