Herr Leuffen, Sie sind der Meinung, dass Putins Tage als Zar gezählt sind. Warum?
Es sind viele Zeichen der Schwäche erkennbar. Ich muss Journalisten nicht mit 15 Jahren Gefängnis bedrohen, wenn ich fest im Sattel sitze. Man muss Kritikern nicht mit 15 Jahren Gefängnis drohen, wenn man fest im Sattel sitzt. Das macht man, wenn man Angst hat. Der russische Präsident weiß, dass ihm das Wasser bis zum Hals steht. Aber die Frage bleibt: Wie lange kann er sich noch halten?
Der Druck ist unwahrscheinlich groß. Und er wird noch größer werden – auf verschiedenen Ebenen: Oligarchen werden sagen: Wir sind immer an der Côte d‘Azur gewesen und jetzt sollen wir in Nowosibirsk Urlaub machen? Immer mehr Soldatenmütter werden weinen. Irgendwann wird das so sehr gären, dass Putin sich nicht mehr halten können wird. Ein demokratisches Russland wird man auch nach Putin so schnell nicht bekommen, aber eins, das hoffentlich zumindest nach außen friedlicher ist.

Es sind verschiedene Szenarien im Umlauf, wie der Ukraine-Krieg enden könnte. Mit welchem Ausgang rechnen Sie?
Auch wenn Verhandlungen in den vergangenen Tagen immer realistischer geworden sind, wird ein Verhandlungserfolg kurzfristig unwahrscheinlich schwer zu erreichen sein. Der Patriotismus der Ukrainer ist durch den Angriff befeuert worden. Sie werden also nicht auf die Putinschen Ultimaten sang- und klanglos eingehen. Ich nehme an, dass Putin mit seiner militärischen Übermacht die Ukraine wohl unterwerfen wird. Aber er wird sie nicht halten können. Der Krieg wird zu einem Bürgerkrieg werden – und das wird Putin auszehren, in Verbindung mit den Sanktionen. Denn die treffen die Leute, die ihn stützen.
Wie lange er diesen Druck aushalten kann, ist schwer zu sagen. Zumal Widerstand auch aus dem Militär kommen kann, oder von ganz rechts, etwa aus dem Umfeld von Schirinowski. Oder aber aus der Zivilgesellschaft, wobei die so geknechtet ist, dass man sich das aktuell nur schwer vorstellen kann.
Das klingt alles nicht gut für die ukrainische Bevölkerung.
Meine Sorge ist: Je mehr sich Putin verrennt, umso schwereres Geschütz muss er auffahren. Die Zahl der zivilen Opfer dürfte deshalb steigen. Er wird versuchen, Kiew zu unterwerfen und dann eine Pseudo-Regierung einzusetzen. Dann kann er der russischen Öffentlichkeit verkünden, dass der Konflikt beendet sei – tatsächlich wird dieser aber weiter schwelen. Trotz dem vermeintlichen Ende des Krieges werden viele russische Soldaten sterben. Das wird seine Autorität unterhöhlen.
Wenn Sie Ukrainer wären: Was würden Sie tun?
Die Frage kann man wohl nie ehrlich und wahrheitsgemäß beantworten, solange man nicht in dieser Situation ist. Aber es gibt drei Möglichkeiten: Man versucht den Rückzug ins Private, man versucht, das Land zu verlassen oder man greift zu den Waffen. Ich wüsste jetzt nicht, wofür ich gemacht wäre.

Was halten Sie von der Ermunterung des ukrainischen Präsidenten, dass sich die Zivilbevölkerung der russischen Armee entgegenstellen soll? Das ist doch lebensgefährlich.
Absolut. Das sind Maßnahmen, die zum Selbstmordkommando werden können. Die russischen Soldaten werden nicht zusehen, wie man Molotowcocktails auf sie schleudert. Das ist eine delikate Frage. Wolodymir Selenskyj sieht eben keine andere Möglichkeit als, wie David gegen Goliath, mit allen Mitteln zu kämpfen, um die russischen Aggressoren zu zermürben. Ethisch ist das problematisch, weil man damit den Konflikt in die Zivilbevölkerung trägt. Aber es ist eine Dilemma-Situation.
Eine militärische Chance hat die Ukraine aber nicht, oder?
Ich bin kein Militärexperte. Aber die Ukraine ist ein sehr großes Land, und das muss man erst mal halten. Wenn wegen eines Partisanenkrieges immer mehr russische Soldaten in Särgen nach Hause gefahren werden, spricht sich das schon herum. Je mehr das sind – die Ukraine behauptet ja, es seien schon mehrere tausend -, dann wird das auf lange Sicht dazu führen, dass Russland eben kein stabiles Protektorat errichten kann.

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat kürzlich signalisiert, dass man die Ukraine gerne in der EU hätte. Aber das ist eher eine Frage von Jahrzehnten, oder?
Ich halte das für sehr schwierig. Ein sofortiger EU-Beitritt, wie er zum Teil gefordert wurde, wäre Harakiri. Kein Mitglied der EU kann ernsthaft wollen, dass der militärische Konflikt in die Europäische Union getragen wird. Solange es keinen echten Friedensvertrag gibt, ist das undenkbar – ein Land im Krieg ist nicht in die EU integrierbar.
Ich sehe für die Ukraine keine tatsächliche Chance, es unter zehn Jahren in die EU zu schaffen. Eine solche Dauer ist dabei übrigens eher die Regel als die Ausnahme. Ein EU-Beitritt der Ukraine ist ein langer und komplexer Prozess mit ungewissem Ausgang. Das Land muss bis dahin noch wichtige Reformen durchführen. Jenseits aller Sympathie für die Ukraine muss die EU auf den Prinzipien der Rechtstaatlichkeit, dem Schutz der Minderheiten und der Einhaltung der anderen zentralen Grundregeln bestehen.
Der Charme des Westens ist, dass er rechtstreu ist. Das ist nicht gerade sexy, aber stellt eine Abgrenzung zu etwa der Beliebigkeit der Putinschen Politik dar.
Militärisch eingreifen wird die Nato nicht. Welche Möglichkeiten hat der Westen noch – jenseits von Sanktionen?
Natürlich muss man es weiter auf diplomatischem Weg versuchen. Über China, über Indien.
Da haben Sie noch Hoffnung?
Ein bisschen. Wichtig ist: Putin muss zumindest scheinbar erhobenen Hauptes aus der Sache herauskommen, sonst ergibt er sich nicht. Die Brücke, die Olaf Scholz ihm mit Februar gebaut hat mit seiner Aussage, die Ukraine komme weder in Putins noch in Scholz‘ Amtszeit in die Nato, hat leider nicht gefruchtet.
Hätte die Nato nach dem Krim-Überfall der Ukraine Verhandlungen anbieten müssen?
Ja, das hat der Westen versäumt. Putin ist immer weiter gegangen: in Georgien, in Tschetschenien, auf der Krim – und der Westen hat immer zugesehen. Wir waren mit unserer Kaufmannslaune beschäftigt. Es hat nicht mehr in unsere Vorstellungswelt gepasst, dass jemand nach anderen Regeln spielt. Aber die Vergangenheit ist die Vergangenheit.
Jetzt kann man beobachten, dass sich die Einstellung binnen kurzer Zeit radikal geändert hat. Scholz spricht zu Recht von einer Zeitenwende. Die Frage ist nur: Gerade ist die Solidarität groß, aber wie lange wird das vorhalten? Sind wir ein Jahr solidarisch? Zwei, drei, vier Jahre? Die Fliehkräfte sind groß. Wenn die Kosten steigen, was machen die Menschen? Sind sie bereit nicht mehr in den Urlaub zu fahren, um die Ukraine zu retten?
Sie persönlich drehen ja die Heizung runter.
Ja, das ist ein kleiner Beitrag, den man leisten kann. Aber das rettet die Ukraine nicht. Ich wäre schon bereit, höhere Steuern zu zahlen. Das geht eben nicht umsonst, was wir da gerade machen – 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr in bereits durch Corona angespannten Haushaltszeiten. Wohlgemerkt muss bei Steuererhöhungen die soziale Dimension im Auge behalten werden, denn sonst sinkt die Zustimmung für diese Maßnahmen, die so zentral sind zur Verteidigung auch unserer Werte und unserer Sicherheit.