Liebe Frau Reichinnek,
eigentlich hätten Sie ja auf drei ältere Männer bauen sollen. Der Linken, deren Spitzenkandidatin Sie sind, sollten Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow drei Direktmandate sichern und damit den Bundestags-Einzug in Fraktionsstärke garantieren. Nun sind die drei „Silberlocken“ (211 Jahre Lebenserfahrung, sieben Kinder, fünf gescheiterte Ehen) auch rüstig-rührig unterwegs. Doch für den Linken-Höhenflug sorgen Sie selbst – und vielleicht ein vierter älterer Herr.
Denn so erstaunlich wenig Bewegung Friedrichs Merz‘ AfD-Sündenfall in die Umfragen gebracht hat – eine Partei hat seither mächtigen Aufwind, und das ist Ihre Partei. Zehntausende Parteieintritte vermeldeten Sie, alle Umfragen sehen Sie derzeit recht klar mit sechs Prozent im Bundestag.
Von so einem Wert kann Christian Lindners FDP seit Monaten nur träumen – und ihre einstige Parteikollegin Sahra Wagenknecht rangiert mit ihrem BSW mittlerweile auch dahinter.
Doch auch wenn Merz sozusagen versehentlich linke Wähler mobilisiert hat – Sie haben daran selbst einen großen Anteil. Ihre Bundestagsrede am Tag der Migrationsabstimmung erreichte hunderttausende Menschen, mit klaren Vorwürfen gegen Friedrich Merz und der Schlussformel: „Auf die Barrikaden!“ Ja, so reißt man das gerne mit sich selbst beschäftigte deutsche linke Milieu aus der Lethargie.
Spannend ist dabei, wie Sie teilweise das Klischee der Linken erfüllen (tätowiert! frech!), aber andere blöde Vorurteile überhaupt nicht bestätigen (stattdessen: Hochschulabschluss! Berufserfahrung!). Und dann noch diese immer wieder durchschimmernde sächsische Tonlage – in der Kombination reicht das offensichtlich, dass sich wieder mehr Menschen von der Linken abgeholt fühlen.
Auf Instagram und TikTok erreichen Sie hunderttausende junge Menschen (als 36-Jährige mit Gen-Z-gerechter Publikumsanrede: „Ihr Mäuse“). Das ist ein gar nicht so kleines Gegengewicht zum sonst dort omnipräsenten Menschenhass der AfD.
Dahinter immer noch alte Ideen
Natürlich darf man eines nicht vergessen: Auch hinter dem jungen Gesicht der Linken stecken noch uralte Ideen. Nato-Skepsis, der Traum von der diplomatischen Ukraine-Lösung – und Milliardäre braucht es auch nicht, sagen Sie in gewisser Enteignungstradition. Dem lässt sich jenseits netter TikToks inhaltlich sehr viel entgegnen – aber gerade deshalb ist es in einem wirklich nicht von einem Linksruck bedrohten Deutschland vielleicht ganz charmant, dass diese Ideen noch jemand vertritt.
Im Moment sieht jedenfalls alles danach aus, als ob die so oft totgesagte Linke doch noch einmal überleben würde. Allerdings: Beinahe ein Naturgesetz ist es, dass sich die Linke nach Erfolgen rasch auch wieder über irgendwas zerstreitet. Bleibt spannend, wer dann auf die Barrikaden geht.