Die Warnung des Westens – an die eigene Adresse – war immer, sich möglichst nicht von der Angst vor Russland bestimmen zu lassen. Nicht in unserer Wahrnehmung des Kreml, nicht in unserer Unterstützung der Ukraine. Das stand die ganze Zeit, die der russische Vernichtungskrieg in der Ukraine schon andauert, im Mittelpunkt der transatlantischen Debatten. Es war immer klar: Das Putin-Regime setzt auf die Angst vor einer bedrohlichen Eskalation des Krieges, weil es in seinem aussichtslosen und aus der Zeit gefallenen Imperialismus nichts anderes hat.

Erfolgreich war das propagandistische Spiel mit der Besorgnis des Westens dennoch oft genug. So nicht zuletzt in Berlin, wo – „Zeitenwende“ hin oder her – im Verlauf des ersten Kriegsjahres der Ukraine bekanntlich Waffen versprochen, aber monatelang nicht geliefert worden sind. Oder man denke an das ewige Hantieren des russischen Präsidenten mit der atomaren Apokalypse, das sich nie ganz verschleißt.

Mit den großen Rückeroberungen seitens der Ukraine im Herbst 2022 und zuletzt mit dem unerwarteten Putschversuch in Russland scheint sich eine Wende abzuzeichnen, ein Umschlag in der Sicht des westlichen Bündnisses auf Putin-Russland. Das aggressive Regime, das jeden realpolitischen Kompass verloren hat, verliert im Zangengriff zwischen Scheitern auf dem Schlachtfeld und unleugbarem Gesichtsverlust und Machtzerfall im Inneren viel von seiner gleichsam außermenschlichen, mythischen Größe.

Da zählt es wenig, wenn die ukrainische Gegenoffensive nur langsam und mühevoll vorankommt. Wer es hervorhebt, sollte ehrlicherweise auch von der verdeckten Politik sprechen, die der Westen mit seinen Waffenlieferungen betreibt: von der gezielten Zurückhaltung bestimmter Kampfflugzeuge und tief nach Russland hineinreichender Lenkwaffen. Und es zählt wenig, wenn das Regime Putins sich erst einmal nur hoffnungslos blamiert hat, statt schon gleich zu zerfallen. Ist nicht viel bedeutsamer, was hier auf einmal vor aller Welt sichtbar wurde: Wie zerbrechlich ein Herrschaftssystem sein kann, das sich auf persönliche Beziehungen stützt und nicht auf staatliche Institutionen?

Aber alles ist offenbar kein Anlass zur Genugtuung, oder nur in Kiew, nicht in Washington, London oder Berlin. Ausgerechnet in dieser Situation meldete sich aus den Führungsetagen des Westens die „Sorge vor Unruhen in ganz Russland“ zu Wort. Neben die alte Angst schiebt sich eine neue, ganz andere: die um die Stabilität oder gar den Bestand des russischen Staates. Vielleicht sogar auch schon die um die Stabilität und den Bestand der Russischen Föderation im Ganzen? Samt ihrer kolonialistischen und rassistischen Strukturen, wie sie sich durchaus in regionalen Unabhängigkeitsbewegungen entladen könnten? Lieber mit Putin als ohne ihn. Wenn es sein muss, auch mittels Aufteilung der Ukraine zwischen der Nato und den Verbrechern in Moskau – á la Henry Kissinger. Es wäre nicht mehr der Westen, der sich heute hinter die Ukraine und ihren Freiheitskampf stellt. Man kann nur hoffen, dass sich der amerikanische Präsident mit seiner Entscheidung in Vilnius, der Ukraine die klare Einladung in die Nato zu verweigern, nicht klammheimlich bereits auf diesen Weg begeben hat.

Der Verfasser war Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz.