Herr Vatter, die Schweizer haben ein Verbot gegen die Gesichtsverhüllung befürwortet. Das trifft eine religiöse Minderheit von geschätzten 30 Frauen in der Schweiz. Wie konnte es so weit kommen?
Sie haben Recht, es betrifft etwa zwei bis drei Dutzend Trägerinnen in der Schweiz, mit anderen Worten – es war in erster Linie ähnlich wie beim Minarett-Verbot vor über zehn Jahren ein symbolischer Entscheid gegen den politischen Islam. Der Unterschied ist, dass die Befürworterschaft diesmal breiter und die Argumente vielschichtiger waren.
Wie meinen Sie das?
Nicht nur SVP, sondern auch einzelne linke Politikerinnen und einzelne Vertreter bürgerlicher Parteien haben sich dafür ausgesprochen. Gleichzeitig ist die Zustimmung ein paar Prozentpunkte niedriger als beim Minarettverbot. Es war deshalb ein knapper Entscheid.
Neben dem symbolischen Entscheid gegen einen politischen Islam war es aber eben auch ein feministisches Ja gegen die Diskriminierung der Frauen in islamischen Gesellschaften und im Weiteren auch ein bürgerliches Ja, weil die Initiative auch Fußballhooligans und Demonstranten betrifft.

Die Initiatoren des Egerkinger Komitees sprechen schon davon, dass man Kopftücher in der Schule verbieten sollte. Wird hier die direkte Demokratie gegen Minderheiten eingesetzt?
Dass die direkte Demokratie gegen religiöse Minderheiten eingesetzt wird, ist kein neues Phänomen, sondern ein sehr altes. Schon die erste Volksinitiative im Jahr 1893 zum Verbot des Schächtens wurde angenommen.
Wir haben eine über 100-jährige Geschichte der direkten Demokratie, in der man religiöse Minderheiten in ihren Rechten beschnitten hat, auch auf kantonaler Ebene. In dieser Logik gehen auch die Initianten vor: Es wird vermutlich weitere Initiativen geben wie das Kopftuchverbot. Da bin ich aber viel skeptischer, ob sie damit Erfolg haben.
Die SVP hat Burkas und Nikabs offen und direkt mit Extremismus gleichgesetzt. Wieso kam das so gut an?
Das hängt damit zusammen, dass man in der Schweiz seit gut 20 Jahren mit diesen radikalen SVP-Kampagnen eingedeckt wird, die von bestimmten Agenturen immer nach dem gleichen Muster gemacht werden. Wie wir wissen, werden die SVP-Plakate teilweise eins zu eins von der AfD in Deutschland übernommen.
Das mag vielleicht erstaunen, aber die schweizerische Politik ist eine der polarisiertesten in Europa. Der knappe Ausgang der Abstimmung ist Ausdruck dieser polarisierten Gesellschaft, die wir in der Schweiz haben.
Die eine Hälfte springt darauf an, man hat sich an die Plakate gewöhnt, kann damit ein symbolisches Zeichen gegen eine Entwicklung aussprechen, die einem nicht behagt, ohne dass die ökonomischen Folgen besonders groß sind.
Für die touristischen Kantone der Schweiz, wo die Besucher aus den Golfstaaten zuletzt stark zunahmen, ist das ein Schuss ins Knie. Sind da Ausnahmen möglich?
Dort, wo diese Touristen als Wirtschaftsfaktor relevant sind, wurde sie abgelehnt. In Zermatt, in Luzern, in Interlaken. Dort weiß man um die Bedeutung des Tourismus aus diesen Ländern. Aber nun, da diese Verfassungsänderung angenommen wurde, müssen die Kantone sie auch umsetzen. Dafür haben sie zwei Jahre Zeit. Sie dürfen aber nicht vom grundlegenden Verfassungstext abweichen.
In der Westschweiz haben auch eher liberale Kantone für das Verbot gestimmt. Welche Rolle spielte hier der französische Einfluss?
Der Kanton Jura hatte die höchste Zustimmung zur Initiative, über 60 Prozent stimmten mit Ja. Das hängt meines Erachtens sehr stark mit Nähe zur französischen Politik und Gesellschaft zusammen.
In der französischsprachigen Schweiz ist die Einschaltquote der französischen Fernsehsender höher als bei französischsprachigen schweizerischen Sendern. Da bleiben Ereignisse wie die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty nicht ungesehen und ohne Wirkung auf die französischsprachige Schweiz.
Woher kommt die offensichtliche Angst der Schweizer vor Islamismus? Hat das mit den Verbindungen des österreichischen Anschlags nach Winterthur zu tun?
Das ist vielleicht das Pendant der französischen Ereignisse. Das, was in Österreich passiert ist und die Verbindung zu der aufgelösten Moschee in Winterthur, die immer wieder in der Öffentlichkeit als Symbol für radikalen Islam betrachtet wird. Das wurde ganz bewusst von dem Egerkinger Komitee in Kampagne verknüpft. Die Verkürzung zwischen Burkaverbot und dem Kampf gegen den radikalen Islam wurde ganz bewusst gewählt.
Wie groß ist die Gefahr von islamistischen Anschlägen in der Schweiz Ihrer Einschätzung nach überhaupt?
In den Berichten des Verfassungsschutzes, soweit öffentlich zugänglich, wird schon auf eine gewisse Gefahr hingewiesen, weil wir im Zentrum von Europa liegen. Außerdem setzt die Schweiz mit den islamkritischen Initiativen ein öffentliches politisches Signal.
Die Schweiz ist ja nicht das einzige europäische Land, wo ein Verhüllungsverbot gilt. In Frankreich gilt es ja schon, dort führte es zu einer Zunahme von Gewalt. Erwarten Sie das auch in der Schweiz?
Ich denke, es gibt eine zahlenmäßig kleine, aber doch radikale Gruppierung in der Schweiz, bei der ich mir schon vorstellen kann, dass sie aktiv werden könnte. Ich gehe aber nicht von flächendeckender Gewalt aus. Auch Parallelgesellschaften, wie man sie in Frankreich kennt, sind in diesem Ausmaß in der Schweiz nicht existent.
Die Volksinitiative war die dritte, die sich gegen eine religiöse Minderheit richtete nach dem Schächten und den Minaretten. Hat die Schweiz ein Problem mit Toleranz und Religionsfreiheit?
Das ist eine schwierige Frage. Die Schweiz, und das zeigen auch viele Abstimmungen, ist durchaus tolerant gegenüber zahlreichen Minderheiten. Sie ist allerdings dann weniger tolerant gegen Minderheiten, wenn sie gesellschaftliche Randgruppen, sogenannte Outgroups, betreffen, die in der Wahrnehmung der Mehrheit als eine Minderheit betrachten werden, die nicht die gleichen kulturellen Grundeinstellungen teilen wie die Mehrheit. Das kann Muslime oder Ausländergruppen betreffen.
Dagegen treffen gesellschaftliche „Ingroups“ auf breite Toleranz. Die Abstimmung zu Rechten von Homosexuellen beispielsweise, da ist die Schweiz relativ tolerant. Es ist eine grundlegende Herausforderung, dass die politische Elite toleranter und offener ist als die Bevölkerung. Das ist nicht nur in der Schweiz so, aber in der Schweiz besteht über die Abstimmungen eben die Möglichkeit, die Verfassung durch Volksentscheide zu ändern.
Laufen gläubige Musliminnen in der Schweiz nun Gefahr, dadurch noch stärker stigmatisiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden?
Diese Gefahr besteht durchaus, auch eines gewissen Rückzugs von muslimischen Kreisen, obwohl sie gar nicht Teil eines radikalen Islams sind. Der allergrößte Teil von Muslimen in der Schweiz ist sehr gemäßigt. Aber es ist klar, dass so eine Abstimmung in der Intention der SVP durchaus als muslim- und ausländerkritisches Votum verstanden wird. Es gibt aber auch Vertreter des fortschrittlichen Islams, die die Initiative ausdrücklich unterstützt haben. Es gibt also auch innerhalb der schweizerischen islamischen Gesellschaft einen Diskurs darüber.
Wie groß schätzen Sie diese Stimmung in Deutschland ein? Wäre ein ähnliches Ergebnis denkbar, gäbe es in Deutschland das Instrument von Volksentscheiden?
Das ist eine sehr hypothetische Frage, denn diese Möglichkeit, die Verfassung durch Volksentscheide zu ändern, gibt es ja in Deutschland nicht. Und es gibt einen grundlegenden Unterschied zur Schweiz: Deutschland hat eine ganz andere Geschichte im Umgang mit der Diskriminierung von religiösen Minderheiten.
Entsprechend gibt es auch grundrechtliche Vorkehrungen, die es auch auf Länder- und kommunaler Ebene unmöglich machen, über solche Bürgerbegehren abzustimmen.
Abgesehen davon ist es denkbar, dass ein Teil der Bevölkerung einer solchen Vorlage zustimmen würde. Aber eben auch als Ausdruck des Unbehagens, als symbolische Stimme. Die AfD ist in Deutschland aber eine Oppositionspartei, die SVP dagegen die größte Partei in der Schweiz. Ich bin nicht sicher, ob man in Deutschland unter diesen Umständen eine Mehrheit für ein solches Verbot erreichen würde.