Wenn sich die Staatsanwältin und der Strafverteidiger in der rechtlichen Würdigung begangener Straftaten einig sind, bei der gebotenen Strafzumessung aber meilenweit auseinanderliegen, dann darf dies als Indiz dafür gewertet werden, dass die Justiz an ihre Grenzen gestoßen ist.
Tatsächlich ging es vor dem Jugend-Schöffengericht des Amtsgerichts Waldshut-Tiengen weniger um die 31 Straftaten, die ein bald 20 Jahre alter Mann von März vergangenen Jahres bis Anfang Januar 2025 begangen haben soll, als vielmehr darum, wo er untergebracht und wo ihm geholfen werden kann.
Verzweifelte Suche nach Therapie-Platz
„Es ist aussichtslos, wir haben keine Lösung gefunden“, sagte Julia Frank von der Jugendgerichtshilfe des Landkreises Waldshut. Seit dem Rausschmiss des jungen Mannes aus einer Therapieeinrichtung in Württemberg im Jahr 2023 bemüht sich die Jugendgerichtshilfe um einen Therapieplatz für den Angeklagten. Vergebens. Den hat jetzt auch das Jugend-Schöffengericht nicht gefunden, immerhin aber hat der Bezirksverein für Soziale Rechtspflege dem Mann in der Verhandlung ein Zimmer angeboten.
Das war die Voraussetzung für Richterin Steindorfner und die beiden Schöffen, den Noch-19-Jährigen zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten zu verurteilen. Ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, entscheidet sich in einer sechsmonatigen sogenannten Vorbewährung.
Der Mann kommt alleine nicht zurecht
Nach fünf Monaten in Untersuchungshaft wurde der Haftbefehl aufgehoben. Der Mann ist auf freiem Fuß und damit weitgehend auf sich alleine gestellt. Genau da liegt das Risiko, wie Staatsanwältin Anne Mehling und auch Julia Frank argumentierten. Der Mann komme alleine nicht zurecht, er sei dringend auf Hilfe angewiesen. „Es wird wieder losgehen“, prophezeite die Staatsanwältin, dass der Genuss der Freiheit nicht von langer Dauer sein werde.
Allzu viel Freiheit hat der Angeklagte in seinem Leben auch noch nicht genossen. Im Alter von neun Jahren musste er in eine Einrichtung in Württemberg, aus einer zweiten Einrichtung wurde er an seinem 18. Geburtstag nach Hause geschickt, weil sich seine Straftaten gehäuft und deren Schwere zugenommen hatte.
Anklageschrift ist 20 Minuten lang
Zuhause aber funktionierte es auch nicht. Er hatte keine Arbeit, langweilte sich und begann zu stehlen. Mehr als 20 Minuten benötigte Staatsanwältin Mehling zum Verlesen der Anklageschrift. Darin aufgelistet sind 31 Straftaten im Zeitraum von wenigen Monaten. Darunter zwölf Fälle von Ladendiebstahl, zwei Ladendiebstähle in Tateinheit mit Hausfriedensbruch und zwei Ladendiebstahle mit einer Waffe.
Vorgeworfen werden ihm außerdem Computerbetrug in zwei Fällen, versuchte Körperverletzung in zwei Fällen und eine Reihe von Beleidigungen und Bedrohungen. Denn stets dann, wenn er erwischt wurde, sei er sehr aggressiv geworden, sagte die Staatsanwältin.
Gutachten stößt auf Unverständnis
Auf allgemeines Unverständnis im Gerichtssaal stieß ein Sachverständigen-Gutachten, das empfahl, den 19-Jährigen nicht nach Jugend-, sondern nach Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen, weil er nichts mehr lernen könne. „Wenn bei meinem Mandanten keine Reife- und Entwicklungsverzögerung vorliege, liege sie bei keinem vor“, argumentierte Strafverteidiger Patrick Steiger.
Und Staatsanwältin Mehling attestierte dem Angeklagten eine „deutliche Intelligenzminderung“. Ob er einen Schulabschluss habe, wisse er nicht ,sagte er auf eine entsprechende Frage von Richterin Steindorfner. Und bei den als Zeugen vernommenen, von ihm bedrohten oder geschlagenen Opfern wollte er sich nicht entschuldigen, weil er über die Taten nicht mehr reden wolle.
Bei einer jungen Frau entschuldigte er sich dann aber doch. Seine Drohungen, sie umzubringen, habe nicht der Frau gegolten, sondern ihrem Hund, der provozierend gebellt habe. Dabei hatte er wenige Minuten vorher den Wunsch geäußert, in einem Zoo zu arbeiten, weil er Tiere so sehr mag.
Betreuer steht in der Kritik
Heftige Kritik einstecken musste der vom Gericht eingesetzte Betreuer des Angeklagten. Er habe sich während der fünfmonatigen Untersuchungshaft des Angeklagten nicht um eine Unterbringung und/oder Therapie gekümmert. Dabei ist die „Schuldfrage“ nicht eindeutig zu beantworten. Die Gesundheitsfürsorge des Angeklagten obliegt noch immer seiner Mutter, alles andere, auch die Aufenthaltsbestimmung, beim Betreuer. Richterin Steindorfner wird wohl Kontakt mit der Betreuungsrichterin in Bad Säckingen aufnehmen.
Staatsanwältin sieht keine positive Sozialprognose
Staatsanwältin Anne Mehling – sie wird wohl in Berufung gehen – sprach von einer Vielzahl an Taten in kurzer Zeit, bei denen hoher Schaden entstanden sei. Der Angeklagte sei – trotz all seiner Beeinträchtigungen – absolut planvoll vorgegangen. Weil keine positive Sozialprognose ausgestellt werden könne, könne die Strafe nicht zur Bewährung ausgestellt werden – und auch für eine Vorbewährung sehe sie keine Chance. Mehling plädierte auf zwei Jahre und vier Monate Jugendstrafe.
„Wir haben hier eine Verantwortung – der Erziehungsgedanke muss im Vordergrund stehen“, hielt Anwalt Patrick Steiger dagegen. „Man hat nichts für ihn gefunden, also sperren wir ihn weg“, lasse sich nicht mit dem Strafrecht vereinbaren. Er plädierte auf eine Jugendstrafe von weniger als zwei Jahren und eine Vorbewährung.
So fällt das Urteil aus
Dem entsprach das Gericht letztlich. Es verurteilte den Mann zu einem Jahr und zehn Monaten Jugendstrafe und einer sechsmonatigen Vorbewährung. Zu den Bewährungsauflagen gehören unter anderem 100 Arbeitsstunden, die Pflicht, die verordneten Medikamente einzunehmen und sich in einer psychiatrischen Einrichtung vorzustellen. „Jetzt liegt es an Dir“, sagte die Richterin zum Schluss zum Angeklagten, der versprach, nicht mehr straffällig zu werden.