Herr Mor, Sie leben in Tel Aviv und sind aktuell auch vor Ort. Wie nehmen Sie die Stimmung in Israel knapp anderthalb Wochen nach den Anschlägen der Terrororganisation Hamas wahr?
Wir wurden überrascht, aber nicht überwältigt. Das ist das Motto dieser Tage. Die Atmosphäre ist gedrückt, denn die ganze Gesellschaft ist betroffen, direkt oder indirekt. Die Zahlen sind schrecklich: Wir sprechen über mehr als 1300 Menschen, die durch die Hamas getötet wurden. 450 Leichen sind noch immer nicht identifiziert worden. Ein Drittel der 15.000 Menschen aus den Kibbuzim an der Grenze zu Gaza wurde ermordet. Das ist fürchterlich.
Was haben die Anschläge in der israelischen Gesellschaft ausgelöst? Sind die Menschen näher zusammengerückt?
Es gibt einen Reflex, der in unserer DNA liegt: Wenn wir vor Herausforderungen gestellt werden, stehen wir zusammen. Die jetzige Situation ist ähnlich, aber im Hintergrund gibt es eine innere Zerrissenheit. Denn die aktuelle Regierung und der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu haben alles daran gesetzt, den demokratischen Charakter Israels zu ändern.
Dagegen sind die Menschen auf die Straße gegangen, sie haben demonstriert. Und sie wurden von der Propaganda der extrem rechten Regierung als untreu gegenüber Israel bezeichnet, als Verräter.
Genau diese Menschen sammeln jetzt Spenden aus der ganzen Welt. Sie bringen die Gesellschaft zusammen. Es ist ihnen gelungen, in das Vakuum einzutreten, das die gescheiterte Regierung hinterlassen hat. Die Tatsache, dass der Premierminister die Menschen als Verräter dargestellt hat, kann man nicht einfach vergessen. Aber die Menschen legen diese Gefühle beiseite und setzen alles daran, der israelischen Gesellschaft zu helfen.
Welche Konsequenzen hat die aktuelle Lage für die Regierung des Landes?
Wir konzentrieren uns jetzt auf den Krieg gegen die Terroristen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir ihn gewinnen werden. Nach dem Krieg werden wir nachdenken müssen. Die Zuständigen, also Premierminister Netanjahu und seine Komplizen, auch der Generalstabschef und seine Leute – alle, die für ein Versagen bei diesem Angriff verantwortlich sind, müssen Verantwortung übernehmen und ihre Posten räumen. Ich bin überzeugt davon, dass es einen umfassenden Untersuchungsprozess geben wird und die Lehren daraus gezogen werden.
Das Auswärtige Amt in Deutschland hat eine Reisewarnung für Israel ausgesprochen, da sich das Land „formell im Kriegszustand“ befindet. Wie beurteilen Sie die Sicherheitslage vor Ort?
Überall in Israel, auch in Tel Aviv und in der Umgebung, gibt es Sirenenalarm. Einfach ist es nicht. Wenn die Menschen nicht zum Einkaufen nach draußen gehen, müssen sie zu Hause bleiben. Bei einem Sirenenalarm haben Menschen im Raum Tel Aviv 90 Sekunden, um einen Schutzraum aufzusuchen.
Naturgemäß werden momentan keine Touristen kommen, es ist zu gefährlich. Die Mitglieder des israelischen Parlaments in Jerusalem mussten am Montag ihre Sitzung unterbrechen und einen Schutzraum betreten. Wovon sprechen wir? Wir befinden uns im Krieg gegen die, die uns vernichten wollen. Man muss sich dementsprechend verhalten.
Der Golfstaat Katar soll eine Vermittlerrolle zwischen Hamas und Israel einnehmen. Das befürwortet etwa Bundeskanzler Olaf Scholz. Gleichzeitig ist Katar einer der wichtigsten Unterstützer der Hamas. Wie stehen Sie zur diplomatischen Einbindung Katars?
Es ist an der Zeit, auf das Schlachtfeld zu gehen und die Diplomatie beiseite zu lassen. Es ist gut, dass der Bundeskanzler nach Israel gekommen ist. Die Solidarität Deutschlands mit Israel ist für uns sehr wichtig. Das gibt uns das Gefühl, dass wir nicht allein sind.
Momentan müssen wir uns aber auf das Schlachtfeld konzentrieren und die Hamas zerschlagen. Es tut mir leid für die harten Worte, aber ich kann es nicht anders darstellen. Katar, Ägypten, Jordanien, alle sind herzlich willkommen, aber es ist an der Zeit, gegen die Terroristen aktiv zu werden.
Am Wochenende kam es zu Feuergefechten an der Grenze zu Libanon. Die Angriffe gingen von der schiitischen Miliz Hisbollah aus. Erwarten Sie eine Zuspitzung des Konflikts im Norden Israels?
Ich hoffe, dass die Hisbollah nicht den Fehler macht und eine zweite Front gegen uns bildet. Der amerikanische Präsident hat allen Gruppen aus Iran, Syrien und Libanon gesagt: Solltet ihr planen, Israel anzugreifen – macht es nicht. Wir wollen keine zweite Front haben. Wenn es dazu kommt, wird Libanon und die libanesische Bevölkerung einen hohen Preis bezahlen. Das gilt auch für uns in Israel.

Was unterscheidet den militärischen Konflikt Israels mit Gaza von dem mit Libanon?
Die Situation mit Libanon ist eine andere als im Gaza-Streifen. Es ist viel komplizierter: Die Hisbollah hat Mittelstreckenraketen, Langstreckenraketen und sie wird von Iran enorm unterstützt. Ich hoffe, dass es bei den kleinen Gefechten der Hisbollah, den Nadelstichen bleibt, mit denen sie ihre Solidarität mit der Hamas bekundet.
In Ihrer Zeit als Gesandter in der israelischen Botschaft in Berlin haben Sie sich für die Zwei-Staaten-Lösung ausgesprochen. Halten Sie diese Lösung nach den jüngsten Ereignissen noch für haltbar?
Das ist Zukunftsmusik. Seit 50 Jahren wird die Besetzung Israels im Westjordanland als vorübergehend betrachtet. Das bedeutet, alle erwarten eine politische Lösung, nämlich die Zwei-Staaten-Lösung. Das war das Motto der Politik.
Aber wenn die Weltgemeinschaft sich die Situation heute anschaut, ist klar, dass am Horizont keine politische Lösung sichtbar ist. 16 Jahre lang stand Netanjahu an der Spitze der Regierung. In all diesen Jahren förderte er die Hamas auf Kosten der Palästinensischen Autonomiebehörde. Das wurde absichtlich getan, um die Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern.
Was bedeutet das für die Zukunft?
Wenn die internationale Gemeinschaft die israelische Besatzung im Westjordanland als dauerhaft betrachtet, wird sich das Problem von der politischen auf die rechtliche Ebene verlagern. Dann können wirtschaftliche und politische Sanktionen gegen Israel verhängt werden. Israel wird dann ein isoliertes Land sein. Künftige israelische Regierungen müssen deshalb die palästinensische Frage in den Mittelpunkt ihrer Agenda stellen.
Außerdem lenken die Spannungen im Westjordanland und der Krieg gegen die Hamas von der größeren Bedrohung ab: dem Iran, der den Terrorismus der Hamas und der Hisbollah unterstützt.
Dieser Krieg ist die Quelle für ein Umdenken. Die israelische Gesellschaft wird sich die Frage stellen müssen: Wie wird der Nahe Osten aussehen? Wohin gehen wir? Eines ist klar: Die Palästinenser bleiben im Westjordanland und Israel bleibt als Staat. Das ist der Ansatzpunkt. Ob wir eine Lösung finden werden? Davon bin ich nicht überzeugt. Dieser Krieg hat ein Erdbeben herbeigeführt und wir wissen nicht, was danach kommen wird.
Wie schätzen Sie derzeit die Chance auf Frieden im Nahen Osten ein?
Es ist schwierig, über Frieden zu sprechen. Wenn Israel keine Partner hat und die extrem rechte Regierung an der Macht bleibt, die vom sogenannten großen Israel träumt, bin ich sehr pessimistisch. Frieden ist ein Konzept, es muss erarbeitet werden. Es muss Partner geben, so wie in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Menschen müssen überzeugt sein, dass sie die Probleme nicht mehr durch Blut und Gewalt lösen, sondern durch Dialog.
Ob der Nahe Osten dafür bereit ist, daran habe ich meine Zweifel. Insbesondere, weil der Iran überall im Nahen Osten involviert ist. Frieden ist gewünscht, aber man muss bereit sein, Opfer für den Frieden zu bringen.