Das ganze Wochenende igelte sich US-Präsident Joe Biden von Beratern umgeben auf dem Landsitz Camp David ein. Er werde zur Lage in Afghanistan auf dem Laufenden gehalten, hieß es lapidar. Einen öffentlichen Auftritt mit einer Stellungnahme gab es am Sonntag – dem Tag, als Kabul fiel und die US-Flagge über der Botschaft eingeholt wurde – nicht. Gleichzeitig erlebt Biden in den US-Medien eine für ihn beispiellose scharfe Kritikwelle. Auch die sonst dem Demokraten wohlgesinnte Washington Post und der liberale Sender CNN lassen am Präsidenten kaum ein gutes Haar. Doch trägt Biden mit seinem überhasteten Totalabzug, der den Taliban das Land in den Schoß fallen ließ, die Alleinschuld an dem Fiasko? Vielmehr drängen sich vier Gründe für den schnellen Fall des Landes in die Hände der islamischen Extremisten auf.

US-Präsident Joe Biden konferiert in Camp David virtuell mit seinem nationalen Sicherheitsteam und hochrangigen Beamten.
US-Präsident Joe Biden konferiert in Camp David virtuell mit seinem nationalen Sicherheitsteam und hochrangigen Beamten. | Bild: The White House

Die Abzugsstrategie

Mit der Verkündung eines festen End-Datums haben sowohl Ex-Präsident Donald Trump wie auch Biden den Taliban ohne Not in die Hände gespielt. Die Islamisten konnten eine dem US- und Nato-Fahrplan angepasste Großoffensive planen und durchführen. Militärexperten auch in den USA weisen darauf hin, dass es klüger gewesen wäre, hier mit weniger offenen Karten zu spielen und das Herunterschrauben der Soldatenzahlen den jeweiligen Umständen vor Ort flexibel anzupassen. Doch Biden wollte mit Blick auf sein eigenes politisches Vermächtnis unbedingt den 11. September 2021 – den 20. Jahrestag der Terroranschläge – als Schlusstag für die Geschichtsbücher, ohne dass dafür ein wirklich zwingender Grund bestand.

Das Prinzip Hoffnung

Der Irrglaube, mit den Taliban könne es eine berechenbare politische Zukunft für das Land geben, die demokratischen und modernen Kräften eine Mitsprache erlaube, war ein beispielloser Selbstbetrug des Westens. Sowohl Trump wie auch Biden gaben sich vertrauensvoll dieser Fata Morgana hin, ohne das Endziel der Extremisten wirklich zu begreifen. Die Taliban nutzten dies durch ihre „politische Vertretung“ bei den Gesprächen geschickt aus.

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Fehlender Nationalstolz

Am Sonntag schlich sich Afghanistans nun Ex-Präsident Ashraf Ghani heimlich aus dem Land – wie der feige und moralisch bankrotte Kapitän eines sinkenden Passagierschiffs, der als Erster ins Rettungsboot springt und hilflose Frauen wie Kinder ihrem Schicksal überlässt. Ghani steht damit auch stellvertretend für die zahlreichen Polizisten und Soldaten, die trotz jahrzehntelanger Ausbildung und Bezahlung durch den Westen – insgesamt flossen mehr als 70 Milliarden Euro für ihr Training – und trotz numerischer Überlegenheit keinen Anlass sahen, für ihre Heimat zu kämpfen, und lieber die zum Großteil von den USA und der Nato finanzierten Waffen den Extremisten übergaben. Zudem gab es auf den Gehaltslisten der Armee offenbar jede Menge „Geistersoldaten“ – also nicht existierende Personen, für die Kabul dennoch abkassierte.

Latente Korruption

Der Westen hat in Afghanistan zwar über lange Zeit und mit hohem Blutzoll den Anschein von Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten können. Doch die massive traditionelle Korruption im Land – im öffentlichen Leben geht ohne Bestechung so gut wie nichts – konnte damit nicht ausgemerzt werden. Sie reichte Berichten zufolge bis in höchste Regierungsämter und umfasste offenbar auch die Präsidenten Hamid Karsai und Ghani. Karsai räumte nach seiner Amtszeit sogar ein, es sei nichts Ungewöhnliches gewesen, dass die CIA jahrelang Bargeld in Säcken direkt in sein Büro gebracht habe.

Die Washington Post berichtete in einer ausführlichen Analyse Ende 2019, Milliardenhilfen hätten zur Ausbreitung der Korruption beigetragen und seien oft „schlimmsten Sündern“ wie regionalen Landesfürsten, Drogenhändlern und Privatfirmen zugute gekommen, deren Verhalten toleriert worden sei, weil man sie als Verbündete der USA ansah. Auf die afghanischen Truppen und die Polizei konnte dies nur frustrierend und demotivierend wirken. „US-Offizielle haben weggesehen“, bilanzierte die Post.